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Sport: Das große Ei-dappel-ju-eff Goulden Liek Iwent - Istaf-Impressionen von Horst Borsetzky

Zum Istaf gehe ich seit Jahrzehnten so regelmäßig wie zum Geburtstag eines guten Freundes, und zu den Höhepunkten meines Lebens zählt es, zwei Mal selber am Start gewesen zu sein. 1955 und 1956 war es, als bei den Berliner Jugendmeisterschaften der Endlauf über 4 x 100 m im Rahmen des "Internationalen Stadion-Festes" ausgetragen wurde und ich bei den Neuköllner Sportfreunden (NSF) einmal als Start- und einmal als Schlussläufer die Ehre hatte, im Olympiastadion zu laufen.

Zum Istaf gehe ich seit Jahrzehnten so regelmäßig wie zum Geburtstag eines guten Freundes, und zu den Höhepunkten meines Lebens zählt es, zwei Mal selber am Start gewesen zu sein. 1955 und 1956 war es, als bei den Berliner Jugendmeisterschaften der Endlauf über 4 x 100 m im Rahmen des "Internationalen Stadion-Festes" ausgetragen wurde und ich bei den Neuköllner Sportfreunden (NSF) einmal als Start- und einmal als Schlussläufer die Ehre hatte, im Olympiastadion zu laufen. Damals ahnten wir noch nichts von der IAAF Golden League und den neuen Schalensitzen . . . Schmal ist es in diesem Jahr durch eben diese, und mir versperren viele Beine den Weg zur rettenden Toilette. Ich war zuletzt zu Hause Punkt 18 Uhr. Mein Nichtmüssen-Rekord liegt bei 3:35:24 (Stunden, nicht Minuten) und Schluss war erst nach 22 Uhr. Mein Gott . . .

Nachdem der erste Angstanfall vorüber ist, schreit mir der Stadionsprecher ins Ohr: "Aufgepasst, was macht Lars Riedel . . .!?" Gott, was soll er schon machen außer Diskus zu werfen. Das tut er dann auch siegreich mit 68,41 m. Auf einer Anzeigetafel bekommen wir Nachhilfeunterricht in Erdkunde: "Washington - USA" leuchtet da auf. Ich belehre Yannick, 6, den mitgenommenen Nachbarsjungen, dass damit der Diskus-Weltmeister Anthony W. gemeint sei. Der Weltrekordler Jürgen Schult (Schwerin) müht sich indessen vergeblich, den ganz rechts außen am Wurfsektor postierten Kampfrichter mit seiner Scheibe zu köpfen. Auch Lars Riedel will dies nicht glücken. Schade, das wäre der absolute Event gewesen. Eben(t).

Wir sitzen für DM 37,00 zzg. Vorverkaufs-Gebühr im Block A 2 rechts, also schräg hinter dem Ziel, und sehen vom Kugelstoßen der Frauen sowie vom Hoch-, Weit- und Stabhochsprung herzlich wenig. "Dabei sein ist nichts", sage ich, und Freund Peter H. bittet mich, dies nicht als Überschrift zu nehmen, um den wackeren Rudi Thiel nicht zu ärgern.

Stimmung kommt auf, als die 5000 m aufgerufen werden, denn der deutsche Volksheld Dieter Baumann "ischt" am Start. Er kommt auch knapp unter die ersten Zehn und ist damit der moralische Sieger, der wirkliche heißt Benjamin Limo und stammt natürlich aus KEN. Leider fehlt der Weltrekordler Haile Gebrselassie aus ETH. "Ist der denn krank?", fragt Yannick, noch sein altes "Heile, heile Gänschen" im Ohr. "Konnte den denn keiner mehr gesund machen . . . ?"

Schon naht der nächste Höhepunkt (sprich: iwent), und wir können gar nicht alle sechzehn kommentieren. So ein Leichtathletik-Meeting ist ja das, was in der Literatur Anthologie genannt wird: Viele Autorinnen und Autoren sind mit den unterschiedlichsten Geschichten in einem Buch vereint. Ein Spiel im Fußball oder Eishockey wäre dagegen als durchgehender Roman zu sehen. Auf die literarische Schiene gerate ich, weil bei den 110-m-Hürden Namen fallen, die sofort dementsprechende Assoziationen auslösen: Falk Balzer (Jena) erinnert an den Baltzer Bocholt in Fontanes Novelle "Ellernklipp", ein Mann, der aus Eifersucht den eigenen Sohn ermordet; Anier Garcia (CUB) an Garcia Lorca ("In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa"); Duan Ross (USA) an den großen Krimi-Kollegen Ross MacDonald ("Die Kehrseite des Dollars"). Aber von Dollars und Doping soll ja hier und heute nicht die Rede sein. Es gewinnt sein Landsmann Larry Wade, dessen Namen Yannick so ausspricht, wie man es schreibt, was auch Sinn macht, denn sehr kräftige . . . n hat der Larry ja durchaus.

Dass man den guten alten Weitsprung jetzt als Long Jump bezeichnet, freut mich sehr, wird doch damit einer der größten deutschen Leichtathleten geehrt, jener im Krieg gefallene Luz Long nämlich, der bei den Olympischen Spielen 1936 hier im Stadion mit seinen 7,87 m den großen Jesse Owens fast geschlagen hätte. An diesem Tage werden wir Deutschen von Herrn Krause vertreten, der mit 7,81 m den siebenten Platz belegt. Es siegt der Weltmeister aus CUB. "Iván Pedroso bittet um Ihre Unterstützung!", ruft der Stadionsprecher - und hinter mir will einer der Zuschauer einen Hut herumgehen lassen, um zu sammeln. Es ist derselbe, der sagt: "Nun ist er übergelatscht." Um an die Reste des real existierenden Sozialismus zu erinnern, schwenkt man unten eine rote Fahne. Eine noble Geste.

Beim 5000-m-Lauf der Frauen schreit der Sprecher: "Begleiten Sie die Läuferinnen hier auf ihrer Stadionrunde", doch als ich derart animiert nach unten springen will, reißt man mich zurück. Ich gerate ins Träumen, denn der Name Gabriela fällt und ich muss sofort an Jorge Amados "Gabriela wie Zimt und Nelken" denken, doch unsere G. kommt aus ROM und der Roman müßte heißen " . . . wie Gold und schnelle Zeiten", denn Gabriela Szabo gewinnt zum siebenten Mal in Folge, knackt als erste den Jackpot und kassiert eine halbe Million Dollar. "Jetzt hat die also den Jack Pott bekommen", freut sich Yannick, "und die sind nun richtig verheiratet." Im Sog der Rumänin läuft Irina Mikitenko mit 14:42,03 einen neuen Landesrekord. Nun raten Sie einmal, welchen: den russischen, ukrainischen oder belorussischen? Nein, den bundesdeutschen. Endlich machen wir es den Franzosen, Italienern und Dänen nach und importieren unsere Spitzenathleten aus Übersee und anderswo. Talente aus Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika, Kamerun, Togo, dem Bismarck-Archipel, von der Wolga und aus Siebenbürgen, bitte meldet euch beim Deutschen Leichtathletik-Verband, ihr werdet dringend gebraucht.

Wieder gibt uns der Stadionsprecher sein Lieblingsrätsel auf, denn mitten im 200-m-Rennen der Frauen fragt er: "Was macht Andrea Philipp?" Ja, was wohl: Liest sie Zeitung, sieht sie fern, kocht sie? Nein, sie wird Fünfte in 23,00. Freude kommt auch auf, als Boris Henry (GER) den Ger (mittelhochdeutsch: germanischer Wurfspieß) im ersten Versuch auf 86,48 m schleudert. Schon allein, dass einer Boris heißt, törnt die Leute an. Und immer wieder haben die Stabhochspringer ihre Fehlversuche, liegen enttäuscht auf der Matte, die Latte in der Hand statt oben. Als Weltmeister Tarasow (RUS) dann die 6,01 bewältigt und bejubelt wird, versteht Yannick Taramas, hat plötzlich Hunger und möchte zum Griechen essen gehen. Dann kommt der Knüller des Abends, und wir fallen fast vom aufgeschraubten Schalensitz, denn wer ehrt laut Ansage die Gabriela Szabo: "Horst Wessel von der Firma Conica . . ." (Wenn Sie als jüngerer Mensch den Gag nicht gleich verstehen sollten, wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an die Landeszentrale für politische Bildung und fragen Sie Ihr Lexikon um Rat).

Mit dem 800-m-Weltmeister und -rekordler Wilson Kipketer erleben wir den zweiten Jackpotknacker des Abends, und im Stadionsprecher triumphiert der alte Sigmund Freud, als er ihn ausrufen läßt: "Der Überläufer in diesem Jahr!" Was so nicht stimmt, denn Kipketer ist ja schon seit einiger Zeit von Kenia nach Dänemark übergelaufen. Die 3000-m-Hindernis sind ein weiterer "Ei-dappel-ju-eff Goulden Liek Iwent", und ich denke ultramodern: "Herr, bleibe bei uns, denn es will Event werden." Es gibt viel Werbung an diesem Abend, und dieser Wettbewerb scheint von der Firma Pattex gesponsert zu sein, denn der große Kommunikator am Mikrofon sieht mit uns Bernhard Barmasai (KEN) in Führung und fügt hinzu: "An ihm klebt Ali Ezzine."

Der letzte Höhepunkt des Abends ist der Auftritt von Hicham El Guerrouj, sprich: Gerrusch. Damit könnte er fast als unser Landsmann gelten, denn viele Deutsche tragen ja seinen Namen wie Raddusch, Mattusch, Siegusch oder Niekusch. Jedenfalls legt der Wunderläufer aus MAR die unolympische Distanz von 2000 m in der neuen Weltrekordzeit von 4:44,79 zurück.

Für mich aber ist ein anderer Rekord wichtiger: der im Nichtmüssen (siehe oben). Ich steigere mich auf 4 Stunden, 19 Minuten und 23 Sekunden, was in meiner Altersklasse phänomenal ist, und ich hoffe, beim Istaf 2000 zum ersten Mal über 4:30 zu bleiben.

Horst Bosetzky ist unter dem Kürzel -ky der erfolgreichste deutsche Krimiautor und gemäß Selbsteinschätzung ein Sportverrückter. Am Ersten eines jeden Monats macht er sich im Tagesspiegel Gedanken über Gott, die Welt und den Sport.

Horst Bosetzky

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