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Sport: Das Helfersyndrom

Die Zeit der großen Strategen ist vorbei – edel sei der moderne Star, hilfreich und gut

Berlin - Von Kevin Kuranyi kann man leicht einen verzerrten Eindruck bekommen. Der Stürmer vom VfB Stuttgart hat einmal ein Tor gefeiert, indem er den Abschuss einer Panzerfaust nachgeahmt hat. Dabei ist Kuranyi eigentlich ein harmoniesüchtiger Mensch. Bei der Fußball-Nationalmannschaft zum Beispiel ging es vor kurzem darum, welche Rückennummer der Stuttgarter bei der EM tragen darf. Beim VfB hat er die 22, doch die begehrt auch Torsten Frings. „Ich wollte nicht mit ihm streiten“, sagt Kuranyi, und weil er mit 22 Jahren noch jung ist und erst zwölf Länderspiele bestritten hat, hat er wie alle jungen Spieler mit wenigen Länderspielen die Nummer genommen, die am Ende übrig geblieben ist. Es war die – 10. Die mythische, die magische.

Pelé hat sie getragen, Platini und Maradona, Netzer und Overath. Gerade bei den Deutschen ist die 10 immer schon die Chiffre für die Sehnsucht nach dem schönen Spiel gewesen. Bei Weltmeisterschaften gehörte sie Lothar Matthäus (1990 und 94), Hansi Müller (1982), Felix Magath (1986) Thomas Häßler (1998) und natürlich Günter Netzer (1974). Kevin Kuranyi ist vermutlich seit dem Stopper Werner Liebrich, dem Erfinder der Grätsche, der deutsche Spieler, dem die 10 am wenigsten zusteht.

„Es ist nur eine Nummer“, sagt Kuranyi. Das mag sich anmaßend anhören; aber wahrscheinlich trifft diese Aussage die Sache besser, als es viele Nostalgiker wahrhaben möchten. Die Nummer 10 steht für eine Idee des Fußballspiels, die sich mit der Realität kaum noch vereinbaren lässt. Denn so wie der klassische Spielmacher, der mit großen Schritten das Mittelfeld durchmisst, der lange schaut und dann lange Pässe schlägt; so wie der Dirigent/Regisseur/Stratege aus dem modernen Fußball verschwunden ist, so verliert auch die Nummer 10 zunehmend an Bedeutung.

Weil aber die Idee vom alles beherrschenden Gestalter immer noch die Sicht auf das Spiel prägt, wird sich jemand wie Michael Ballack stets dem Vorwurf ausgesetzt sehen, seiner Führungsaufgabe nicht gerecht zu werden. Diese Sicht ist typisch deutsch, genau wie der Ruf nach dem Führungsspieler, der alles lenkt und leitet. Man muss diese Forderung nur mal aus der anderen Perspektive betrachten: Wenn es einen gibt, der führen soll, heißt das, dass sich die zehn anderen willenlos führen lassen. Sinn eines Mannschaftsspiels kann das nicht sein. Bixente Lizarazu, nach Zahl der Titel einer der erfolgreichsten Fußballer überhaupt, hat einmal gesagt, in Frankreich spreche man nie von Führungsspielern: „Wir denken mehr im Kollektiv.“ Man könnte auch sagen: Im modernen Fußball gibt es keine Führungsspieler, weil sich der moderne Fußball keine geführten Spieler leisten kann.

Die Nichtbeachtung des Trikots mit der Nummer 10 ist in Deutschland längst ein Schutzmechanismus gegen unerfüllbare Erwartungen. Beim Testspiel der Nationalelf gegen die Schweiz klagte Fernsehkommentator Johannes B. Kerner, dass Ballack nicht zu sehen sei. Das stimmt, wenn der Mittelfeldspieler mit einem Maßstab gemessen wird, der vor 20 Jahren gegolten hat. Vielleicht trägt Michael Ballack die 13, um mit der 10 auf dem Rücken nicht noch mehr Unmut zu provozieren. So wie Bernd Schneider, ein anderer potenzieller Zehner, die 19 trägt und Sebastian Deisler die 26.

Der Trend weg von der Rückennummer 10 ist auch international zu beobachten. Als Zinedine Zidane vor drei Jahren zu Real Madrid wechselte, witterte mancher einen großen Streit, weil die ihm würdige 10 bereits vergeben war. „Welche Nummer ist noch frei?“, fragte der Weltstar – und nahm die 5. Diese selbstlose Haltung beschreibt nicht nur den bescheidenen Menschen Zidane, sie wird auch immer stärker prägend für den modernen Fußball. Bei Real hat sich der Franzose im Sinne seiner Mannschaft und daher ohne Klagen von der Zentrale ins linke Mittelfeld versetzen lassen. Edel sei der moderne Star, hilfreich und gut.

Günter Netzer ist noch heute stolz darauf, dass er in den 70ern seinen Paladin Herbert Wimmer hatte, der für ihn gelaufen ist. Zinedine Zidane ist stolz darauf, dass er für seine Mannschaft läuft. Der – im wahren Sinne des Wortes – Fortschritt des modernen Fußballs lässt sich sogar in Kilometern bemessen: Overath und Netzer sind früher fünf bis sieben Kilometer pro Spiel gelaufen, Zidane und Ballack bringen es heute auf die doppelte Distanz.

Was einen Star neben einer besonderen Ballbehandlung aus der Masse heraushebt, ist die Einsicht in die Funktionsweise des modernen Spiels. Stilbildend ist eine Verknappung von Raum und Zeit. Ganze Mannschaftsteile verschieben sich en bloc, um die bespielbare Fläche des Feldes zu verkleinern. Und kaum hat ein Spieler den Ball angenommen, sieht er sich dem Ansturm mehrerer Gegner ausgesetzt. Dem Bedrängten müssen also von seinen Mitspielern zusätzliche Möglichkeiten eröffnet werden, damit er sich aus der misslichen Situation befreien kann. Sie müssen sich anbieten. Das heißt: Sie müssen laufen.

Eine Mannschaft, deren Spieler dazu bereit sind, wird beim Publikum oft den Eindruck erwecken, in Überzahl zu spielen. In der Bundesliga ist das am ehesten Werder Bremen und Bayer Leverkusen gelungen, also nicht von ungefähr den beiden Mannschaften, die in dieser Saison für den schönsten Fußball gelobt wurden. Klaus Augenthaler, der Trainer der Leverkusener, verlangt von seiner Mannschaft, dass dem ballführenden Spieler von seinen Kollegen immer drei Anspielmöglichkeiten geschaffen werden.

Das neue Helfersyndrom der wahren Stars ist auch bei Michael Ballack zu beobachten – und es bringt ihm immer wieder Kritik ein, weil es nicht mit dem traditionellen Bild vom Spielmacher in Einklang zu bringen ist. Gegen die Schweiz verlagerte sich Ballacks Aufenthaltsort während des Spiels immer weiter nach hinten. Anfangs attackierte er noch den gegnerischen Torwart, doch als Ballack feststellte, dass er in der Offensive ohne Unterstützung durch die Kollegen gewissermaßen aus dem Spiel genommen war, bot er sich immer wieder vor dem eigenen Strafraum als Anspielstation an.

Entscheidend ist es, das rechte Maß aus Eigennutz und Gemeinsinn zu finden. Als Real Madrid am Ende dieser Saison in die Krise stürzte, hat David Beckham versucht, seine Mannschaft mit noch mehr Eifer zu unterstützen. In Wirklichkeit aber hat er ihr nicht geholfen, sondern nur seine Kräfte vergeudet. Michael Ballack kennt dieses Gefühl.

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