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Sport: Das Märchen von Kopenhagen

Ein Spiel als Legende: Wie die Bundesrepublik 1978 in einem dramatischen Finale in Dänemark Handball-Weltmeister wurde

Berlin - Es ist ein Bild, das Entschlossenheit und Siegeswillen zeigt – und den nahenden Triumph. Horst Spengler ist in die Tuborg-Bande gekracht, nach einem Gegenstoß mit höchstem Tempo, doch in diesem Moment ignoriert er alle Schmerzen: Der Kapitän der bundesdeutschen Handball-Nationalmannschaft dreht sich um und jubelt, noch in der Bande liegend, und mit ihm die meisten der 7000 Zuschauern in der ausverkauften Bröndbyhalle zu Kopenhagen. Mit diesem Wurf zur 20:16-Führung in der 56. Minute ist der Sieg fast perfekt im Finale der Handball-Weltmeisterschaft.

Auch wenn die Sowjets noch einmal wütend kontern und in der letzten Minute auf 20:19 verkürzen, ändert das nichts mehr an einer der größten sportlichen Sensationen der Siebzigerjahre: Die bundesdeutsche Mannschaft, das mit 23,4 Jahren Durchschnittsalter jüngste Team des 16 Teams umfassenden Teilnehmerfeldes, hat den als unschlagbar geltenden Olympiasieger in die Knie gezwungen. Und noch eine andere Szene wird bald an den 5. Februar 1978 erinnern: Dieses Foto, wie Vlado Stenzel auf den Schultern aus der Halle getragen wird – mit einer Krone auf dem Kopf. Der „König von Kopenhagen“ wird der jugoslawische Bundestrainer danach genannt. „Wir heißen eine neue Handball-Großmacht willkommen. Die ‚Rote Armee’ aus der UdSSR konnte Stenzels Truppe nicht stoppen“, schrieb hernach der dänische Jyllandsposten.

Viele erblicken in dem Finale von Kopenhagen ein sportliches Wunder, hatte die BRD, weil die Funktionäre zu lange auf den sterbenden Feldhandball gesetzt hatten, doch zu Beginn der Siebzigerjahre den Anschluss an die Weltspitze verloren. Der personelle Schnitt, den der neue Trainer Stenzel nach der verpatzten Weltmeisterschaft 1974, bei der Deutschland nur Neunter wurde, durchgesetzt hatte, konnte radikaler nicht sein. Große Namen wie Hansi Schmidt hatte der Mann aus Zagreb aussortiert, er setzte kompromisslos auf die Jugend, in Dänemark waren aus der Mannschaft von 1974 nur zwei Spieler (Joachim Deckarm und Spengler) dabei – Spengler war zuvor mit knapp 28 Jahren der jüngste deutsche Feldspieler gewesen. Als eigentliche Geburtsstunde dieser neuen Mannschaft galt die Partie im März 1976 in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Dort verlor die Stenzel-Mannschaft zwar das letzte dramatische Qualifikationsspiel gegen die damals übermächtig scheinende DDR. Aber als Torwart Manfred Hofmann in der letzten Sekunde einen Siebenmeter hielt, war die Qualifikation für die Olympischen Spiele 1976 in Montreal geschafft. Schon in Kanada gefiel die junge Mannschaft mit guter Spielanlage und wurde am Ende Vierter.

Es wirkte im Nachhinein nicht mehr als Zufall, dass dieses dänische Märchen in Odense begann, der Geburtsstadt des Dichters Hans-Christian Andersen. In den drei Vorrundenspielen tankte die bundesdeutsche Mannschaft großes Selbstvertrauen, als nacheinander die CSSR (16:13), Kanada (20:10) und Jugoslawien (18:13), der Olympiasieger von 1972, geschlagen wurden. In der Hauptrunde hatten sie dann Glück: Im Bruderduell gegen die favorisierte DDR schnappte sich der aufmerksame Heiner Brand einen ausgeführten Freiwurf (siehe Text unten) und glich nach einem Tempolauf zum 14:14 aus. Und nach dem 17:17 gegen Weltmeister Rumänien profitierten die Bundesdeutschen von dem 16:16 der DDR gegen Jugoslawien – das Finale war erreicht.

Diese 60 Spielminuten schließlich boten Stoff für ganze Sportromane: Die unglaublichen Reaktionen des Manfred Hofmann, der die Sowjets unter anderem mit drei gehaltenen Siebenmetern verzweifeln ließ. Die perfekte Regie des großen Joachim Deckarm im Rückraum, und auch die erneut überragende Abwehrleistung Heiner Brands. Aber die sensationellste Wendung war sicher die Geschichte von Linksaußen Dieter Waltke. Der Mann aus Dankersen, der wegen seiner Haarpracht in Anlehnung an Jimmy Hendrix nur „Jimmy“ genannt wurde, hatte bis dato keinen Einsatz verzeichnet und wollte, tief enttäuscht, am Vorabend des Finals bereits abreisen. Aber Stenzel überredete ihn zum Bleiben: „Du spielst morgen.“

So ereigneten sich ab der 39. Spielminute die vielleicht 193 bizarrsten Sekunden der WM-Geschichte: Als Vlado Stenzel Dieter Waltke für Arno Ehret einwechselte, düpierte der Student die überraschten Sowjets mit drei Toren in Folge, erhöhte die deutsche Führung von 13:12 auf 16:12 – und dann wechselte Bundestrainer Vlado Stenzel ihn wieder aus. „Wenn man sich drei Wochen schonen darf, muss man ja genügend Kraftreserven haben“, witzelte Waltke nach dem Endspiel, das sich in den Jahren danach zum größten Mythos des deutschen Handballs entwickelte.

„Dieser Mythos von 1978 wuchs mit jeder WM, jeder EM, mit jeder Olympiateilnahme, bei denen Deutschlands Handballern die Wiederholung des Erfolges von damals versagt blieb“, erklärt sich Brand in seiner Autobiographie die wachsende Macht dieses märchenhaften 5. Februar 1978 von Kopenhagen. Und Brand hätte sicher nichts dagegen einzuwenden, diesen Mythos nun zumindest abzuschwächen. Und am 4. Februar 2007 in Köln, am Tag des Finales der Weltmeisterschaft in Deutschland, ein neues Märchen zu schreiben.

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