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Sport: Das perfekte Spiel

Auf der Suche nach der verlorenen Faszination des Profitennis

Nimmt man es preisgeldmäßig genau, dann ist heute eigentlicher Welttennissaisonhöhepunkt.

Auf die Frage allerdings, wer von Ihnen heute Nacht die wahre Freizeitluxustat begehen wird, das diesjährige US-Open-Finale live vor dem Bildschirm zu verfolgen, kann es nur eine realistische Antwort geben: niemand. Ausgehend von diesem nahezu vollkommenen Relevanzverlust des Profitennis sei zunächst eine gänzlich unkontroverse Behauptung aufgestellt: Nie war Tennis so öde wie heute! Und im direkten Thesenanschluss eine revolutionäre Frage formuliert: Woran liegt das? Einmal so weit gekommen, stehen dem deutschen Tennisanalysten noch genau zwei Wege offen. Der erste besteht darin, Boris Becker anzurufen. Wir wollen den anderen wählen und selber nachdenken. Unsere Miniplatz-Analyse zum globalen Krisenfall Fernsehtennis sähe, in sechs kurzen Trippelschritten, folgendermaßen aus:

Erstens, Tennis ist die dialogische Individualsportart par excellence. Der sportliche Kick von dialogischen Individualsportarten liegt in der Individualität der Spieler. Das wahre Faszinosum eines Tennismatches besteht mit anderen Worten darin, dass es einen jeweils unwiederholbaren Ereignisraum kreiert, in dem beide Akteure für die Zuschauer als unverwechselbare und einzigartige „Jemande“ sichtbar werden. Den eigentlich faszinationsbedingenden Wahrnehmungshintergrund, vor dem sich die spielerische Individualität eines wahren Champions ausgestalten und verwirklichen kann, bildet im Tennis somit die konkrete Spielgestaltung seines Gegners. Bei ausgewogener Spielqualität gilt deshalb als Regel: Je gegensätzlicher und ausdifferenzierter die jeweiligen Spielauffassungen sind, desto höher das Attraktivitätspotenzial einer Partie.

Zweitens: Im Wettkampftennis gibt es in Wahrheit nur eine taktische Maxime: dominiere den Gegner, zwinge ihm deinen Stil auf! Die faktisch siegbedingende Zielvorgabe des Tennis besteht also in nichts anderem als der systematischen Unterdrückung des Kontrahenten, soweit es dessen Individualität als Spieler betrifft.

Drittens: Im Rahmen einer hundertjährigen Professionalisierungsgeschichte haben sich im Welttennis zwei stilistische Dominanzstrategien ausgebildet. Spieler/innen, die der ersten Linie zugehören, pflegen einen reaktiv-situativen Stil, das heißt die konkrete taktische Umsetzung ihrer Dominanzstrategie richtet sich nach dem Kontrahenten. Die erste Linie spielt „mit dem Gegner“, insbesondere, indem sie dessen konkrete Schwächen erspäht und bloßstellt. Sie agieren scheinbar defensiv, sind meist return- und laufstark und verfügen über ein, zwei „tödliche" Grundlinienschläge, mit denen sie angestrebt längere Ballwechsel für sich entscheiden. Im Gegensatz zu dieser ersten, dialogisch-reaktiven Linie zeichnet sich die zweite Stillinie durch ihren konsequenten Monologismus aus. Hier wird das eigene Spiel, egal gegen wen es gerade geht und egal wie das Match bisher verlief, stets starr und unbeirrt durchgezogen. Spieler der zweiten Linie treten offensiv dominant auf. Der Zentralschlag dieser hart und betont physisch spielenden Linie ist der erste Aufschlag. Längere Ballwechsel bleiben unerwünscht.

Viertens: Die Ausbildung einer stilistisch ansehnlichen und spielerisch tragfähigen Individualität ist ein aufwendiger Prozess, der jede Menge Zeit, Geld, Fleiß und vor allem Nerven kostet. Sie ist Luxus pur. Das gilt auch für die aktive Fernsehwahrnehmung von spielerischer Individualität.

Fünftens: Das mit den letzten zwanzig Jahren kontinuierlich angestiegene Geschwindigkeits- und Professionalisierungsniveau hat im Tennis mittlerweile zur nahezu vollständigen Auslöschung der ersten stilistischen Linie geführt. Ihre erfolgreichen Vertreter sind heute so zahlreich wie Haupthaare ihres letzten Helden, Andre Agassi. Die Komplexitätszumutung, sich als Individuum im Spiel aktiv auf das Spiel und die Eigenheiten des anderen einzustellen, als notwendige Bedingung einer großen, einer wirklich packenden Partie, ist im rastfreien Turnieralltag zum stilistischen Luxus geworden. Der gesichtslose und quasi-maschinelle Monologismus eilt als Dominanzprinzip von Sieg zu Sieg. Das heutige Tennis löscht so den Ereigniskontrast, dem es seine eigentliche Faszination als Spiel verdankt.

Sechstens und letztens: Wenn es stimmt, dass nicht nur die Ausbildung, sondern auch die aktive Fernsehwahrnehmung von spielerisch attraktiver Individualität nach zeitintensiver Schulung und nervenaufreibender Eigenerfahrung verlangt, so dürfte der eigentliche, triviale Grund der kollektiv erfahrenen Tennisödnis in unserem eigenen, schon Jahre währenden Konsumverzicht liegen. Am besten also, Sie vergessen den ganzen Thesenschwachsinn und handeln wie jedes wahre Tennisindividuum gerade heute handeln muss: reaktiv-situativ und betont luxusorientiert. Ab 1.30 Uhr geht´s in New York los. Ich zähl auf Sie!

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