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DAS SPIEL MEINES LEBENS: BOSSE: 21. 06. 1988, Deutschland – Niederlande 1:2 Bosse, 31, Musiker

aufgezeichnet von Benjamin Apitius Es war Europameisterschaft in Deutschland – und meine Eltern wollten mit ihren Kindern doch tatsächlich nach Holland fahren. So wie jedes Jahr: Sommerurlaub im Nachbarland.

aufgezeichnet von Benjamin Apitius

Es war Europameisterschaft in Deutschland – und meine Eltern wollten mit ihren Kindern doch tatsächlich nach Holland fahren. So wie jedes Jahr: Sommerurlaub im Nachbarland. Ich war wenig begeistert. Mein Vater musste mir versprechen, dass ich kein Spiel des Turniers verpassen würde. Und dass wir in das Land unseres siegreichen Halbfinalgegners fahren würden, ahnte zu dem Zeitpunkt sowieso niemand. Wir schipperten also durch die Grachten, ließen es uns gut gehen, schauten Fußball. Als die Halbfinalpaarung feststand, beschlossen meine Eltern in der Höhle des Löwen zu bleiben. Mein Vater zeigte sich siegesgewiss und wollte das Spiel sogar in Amsterdam schauen. Als wir Stunden vor dem Anpfiff durch die Stadt schlenderten, trauten wir unseren Augen nicht. Alles, wirklich alles war orange. Sogar die Hunde waren eingefärbt. Orange Schäferhunde – das muss man sich einmal vorstellen. Ich hätte mir am liebsten die Deutschlandfahne von der Wange gewischt, nur meinem Vater zuliebe trug ich sie durch diese orange Welt. Wir fanden Platz in einer Kneipe. Die Männer dort trugen angeklebte Schnurrbärte unter der Nase, so wie Ruud Gullit. Dann ging es los. Heimlich drückte ich die Daumen für Deutschland, und natürlich für Litti, meinen damaligen Liebling. Deutschland – Holland, das war auch das Duell Jürgen Kohler gegen Marco van Basten. Und es sollte spielentscheidend sein. In der Kneipe kippte die ausgelassene Stimmung mit dem deutschen Führungstor. Ich jubelte lauthals in der Stille des nationalen Schocks, es ging nicht anders, und wahrscheinlich bewahrte mich nur mein junges Alter vor einer Tracht Prügel. Dann drehte sich das Spiel, und Mitte der zweiten Halbzeit kamen die Holländer zum Ausgleich. Mein Vater musste durch die Hölle. Zuhause auf dem Sofa guckte er Fußball sehr leidenschaftlich mit Freudentänzen oder Hasstiraden. Aber hier, im Feindesland, ging das natürlich nicht. Er war ruhig wie eine Maus. Auf dem Platz ging es hin und her, Völler machte das Ding nicht rein – und auf der anderen Seite stand natürlich van Basten goldrichtig. 2:1. Eine Minute vor Schluss. Nach dem Abpfiff gab es einen großen Knall. Und die Party ging los. Die holländischen Fans tanzten sogar auf dem Dach eines deutschen Reisebusses. Ich war den Tränen nahe. Es war die erste große Niederlage in meinem Leben. Und es sollte bis heute die schlimmste bleiben.

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