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Sport: Den "Klassenauftrag" nahm die schnellste Frau der Welt nur am Rande zur Kenntnis

Wie Renate Stecher mit 20jähriger Verzögerung ihre Medaillen genoß / Erinnerungen an die Olympischen Spiele von München 1972 (vierte Folge)VON ERNST PODESWA JENA/BERLIN.Der für die Heidenstraße in Jena zuständige Postbote hatte in jüngster Zeit besonders viel Briefe in einen bestimmten Kasten einzuwerfen.

Wie Renate Stecher mit 20jähriger Verzögerung ihre Medaillen genoß / Erinnerungen an die Olympischen Spiele von München 1972 (vierte Folge)VON ERNST PODESWA JENA/BERLIN.Der für die Heidenstraße in Jena zuständige Postbote hatte in jüngster Zeit besonders viel Briefe in einen bestimmten Kasten einzuwerfen."Seit dem gesamtdeutschen Treff der Medaillengewinner bei den Spielen 1972 in München im Frühjahr ist das so.Unter den Autogrammbriefen sind erstaunlicherweise viele von Kindern und Jugendlichen", sagt Renate Stecher.Man bittet die 47jährige ein Vierteljahrhundert später um ihren Schriftzug, weil sie die erfolgreichste Sprinterin von München war: Gold über 100 m, Gold über 200 m, Silber mit der Staffel über 4x100 m.Welchen Medienrummel das heute im vereinten Deutschland ausgelöst hätte, ist kaum vorstellbar.Denn mitunter genügt eine Silbermedaille (wie bei Zehnkämpfer Frank Busemann), um alle Relationen von Leistung und dazugehöriger Würdigung über den Haufen zu werfen. Die besondere Konstellation der Münchener Spiele "hat mich kaum berührt", wie die Jenaerin sich erinnert.Klar, es war der erste Auftritt einer eigenständigen DDR-Mannschaft bei Olympischen Spielen.Da war von einem "Klassenauftrag" die Rede - auf dem Boden des Klassenfeindes die "sportliche Überlegenheit des Sozialismus" zu demonstrieren.So stand es im "Neuen Deutschland", so hielten die DDR-Funktionäre Reden - vor allem, wenn "hoher Besuch" der Partei- und Staatsführung zugegen war. "Das alles hat mich kaum erreicht.Man hat es beiläufig zur Kenntnis genommen, aber dadurch ist bei mir - wie bei den meisten der Mannschaftskollegen - kein Funken Motivation mehr ausgelöst worden.Ich habe auch nie richtig ein staatliches Muß im Leistungssport empfunden.Mit der Teilnahme an den Spielen hatte sich ein Jugendtraum erfüllt, und ich wollte einfach mein Bestes geben.Irgendwelche Medaillenvorgaben, die bei Funktionären oder Trainern herumspukten, waren für mich weit weg." Dieses Naturell half Renate Stecher in den wichtigsten Rennen ihrer Laufbahn."Vor München hatte ich ja schon ein paar Weltrekorde erzielt, wußte mich nach intensiver Vorbereitung in guter Form.In Erinnerung ist mir Wochen vorher eine kurze Stipvisite im neuen Olympiastadion.Da konnte ich mit ein paar anderen DDR-Athleten Starts und Trainingsläufe zum Kennenlernen absolvieren.Da kein Trainer mit war, bot sich Rudi Hellmann (Abteilungsleiter Sport im Zentralkomitee der SED, d.R.) für das Startkommando an.Ich mußte ihm erklären, wie man das so macht." Bei den olympischen Rennen dachte die kräftige Sprinterin im blauen DDR-Dreß ungeachtet aller Parolen und Aufträge nur von Lauf zu Lauf."Mädel, Kräfte sparen", hatte ihr Trainer Horst-Dieter Hille eingeschärft.So hielt sie es in den Vor- und Zwischenläufen, und erst in den beiden Final-Einzelrennen ("Da stellte sich am Abend vorher ein vorher nie gekanntes Lampenfieber ein") zeigte der "Blitz aus Jena" all sein Können.Hinterher gab es das übliche Ritual bei der Mannschaftsleitung - Dank an alle, die zumindest den Endkampf erreicht hatten, und ein Glas heimischen Rotkäppchen-Sekts.Denkwürdig ein Ruhetag vor Beginn der Staffelwettbewerbe: Fahrt ins Ausweichquartier nach Füssen.Ausflug zur Zugspitze.Abschalten.Nächsten Morgen, von Trainern überbracht, die unfaßbare Kunde vom Attentat auf Sportler Israels.Das Warten.Abbruch oder Weitermachen? "Ich bin überzeugt, daß es richtig war, die Spiele weiterzuführen.Ein Abbruch wäre ein Erfolg für die Terroristen gewesen." Dann die Staffel mit dem deutsch-deutschen Duell am Schluß zwischen ihr und Heide Rosendahl: "Daß wir nicht gewannen, war für mich so überraschend nicht.Denn beide deutsche Teams hatten ja Weltklasseläuferinnen.Daß der Rennausgang noch heute als Sieg über die DDR-Staatsamateure mit einer polemischen Zielrichtung abgefeiert wird, ärgert mich ein bißchen.Man sollte auch mal darüber reden, warum inzwischen solch eine Misere im deutschen Sprint eingetreten ist." 1992 reiste die Angestellte der Universität Jena, verheiratet mit einem 400-m-Hürden- Läufer und Mutter von drei Töchtern (22/17/12), ein drittes Mal nach München.Erst da habe sie realisiert, was 20 Jahre zuvor passiert war: "Ich war im Stadion, bin durch das Olympische Dorf gebummelt - und plötzlich waren die Erinnerungen an die schönsten Augenblicke meines Sportlerlebens so frisch, als wäre es gestern gewesen."

ERNST PODESWA

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