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Lennard Kämna nahm sich eine Auszeit.

© REUTERS

Den Schimpansen zähmen: Die Kraft der Psychologie bei der Tour de France

Immer mehr Radprofis nehmen psychologische Hilfe in Anspruch. Doch einige kritisieren die teaminternen Psychologen.

Der Radsport entdeckt die Psychologie immer mehr für sich. Schon 2014 veröffentlichte der britische Sportpsychologe Andy Lane eine Studie, in der er 20 Prozent des Erfolgs eines Spitzensportlers psychischen Faktoren zuschrieb. Und jetzt erobern Motivationsbücher wie „Der versteckte Motor“ von Martijn Veldkamp den Markt. Die Rennställe im Profiradsport nehmen solche Anregungen gerne auf. Einen „versteckten Motor“ zu befreien und von dessen Antrieb zu profitieren, ist für sie durchaus reizvoll. Gerade im Moment, wenn es um den Erfolg bei der größten und wichtigsten Rundfahrt, der Tour de France geht.

„Wir haben das Glück, dass wir bereits seit 2002 mit dem Psychologen Steve Peters zusammenarbeiten“, erzählt David Brailsford, der die Briten zu großen Erfolgen führte. „Er hatte einen immensen Einfluss auf uns alle und auf unsere Sicht darauf, wie die mentale Seite des Menschen funktioniert.“ Peters und Brailsford arbeiteten zunächst bei British Cycling zusammen, dann bei Team Sky und jetzt auch bei Team Ineos. Peters war lange fest angestellt, arbeitet inzwischen in Teilzeit.
Sein Ansatz besteht darin, die menschliche Psyche in einen rationalen Teil – er nennt ihn die „menschliche Seite“ – und einen irrationalen, emotionalen Teil – in seinem Duktus die „Schimpansenseite“ – aufzuteilen. Die „Schimpansenseite“, also Gefühle wie Angst, Unwohlsein, aber auch Momente von Freude und Stärke, gelte es demnach zu zähmen und in einen Antrieb zu verwandeln. „Peters hat großen Einfluss darauf gehabt, wie die Atmosphäre im Team und im Umfeld beschaffen sein sollte. Da ging es darum, ob man anweisen und kontrollieren soll oder eher kommunizieren und verhandeln“, erzählt Brailsford. Glaubt man allerdings den Beschwerden über Mobbing und machohaftem Gehabe einzelner Trainer vor allem in der Frauenabteilung von British Cycling, kann der Einfluss von Peters doch nicht so groß gewesen sein, wie Brailsford es darstellt.
Aber immerhin ist beim Boss das Verständnis für die mentale Seite gewachsen. Und es geht bei ihm auch weit über simple Motivationsfragen hinaus. „Motivation ist nur die Oberfläche des Ozeans, es geht eher darum, die Tiefe des Ozeans darunter zu entdecken. Das ist wichtig, um den individuellen Antrieb zu finden“, sagt Brailsford.
Andere Teams scheinen noch nicht so weit zu sein in der Entwicklung. „Im Trainingslager hat sich bei uns ein Sportpsychologe vorgestellt. Der kam aber nicht vom Team. Mit dem konnte man, wenn man wollte, privat zusammenarbeiten“, erzählt Emanuel Buchmann. Der Profi von Bora hansgrohe nahm das Angebot offenbar nicht in Anspruch. „Ich komme selbst ganz gut mit dem Druck klar, das ist ja auch eine Typfrage“, meinte er, als er auf die Depressionen seines früheren Teamkollegen und Rundfahrtkapitän-Vorgängers Dominik Nerz angesprochen wurde.

Interessenskonflikte

Buchmann weist aber auch auf den Interessenkonflikt hin, in dem ein vom Rennstall bezahlter Psychologe stecken kann. Wem ist er zuerst verpflichtet, dem Athleten oder dem Team? „Ich denke, es ist besser, wenn man die mentale Betreuung nicht über das Team macht. Das können ja Probleme sein, die man vielleicht nicht mit dem Team teilen will“, sagt Buchmann. Einen eigenen Weg ging auch Tour-Neuling Lennard Kämna. „Ich hatte in der letzten Saison viel mit gesundheitlichen Problemen zu tun, bin von Arzt zu Arzt gelaufen“, erzählt Kämna. „Irgendwann kam dann der Moment an dem ich mir sagte, ich brauche jetzt eine Pause und muss auch meinen Kopf resetten, richtig frisch sein, um dann wieder voll angreifen zu können. Als professioneller Sportler bin ich dann auch von mir selbst aus zu einer Sportpsychologin in Bremen gegangen.“ Sein Rennstall Sunweb war mit der Renn- und Trainingspause des Rundfahrttalents einverstanden. „Sie haben zu mir gehalten, das werde ich auch nie vergessen“, sagt er heute. Kämna, 22 Jahre jung, ist Vertreter einer Generation, für die mentale Unterstützung kein Zeichen der Schwäche ist. Da befindet sich der Sport der harten, ausdauernden und widerstandsfähigen Männer in einem Wandlungsprozess. „Man muss eine Atmosphäre schaffen, in der es ganz selbstverständlich ist, über die Auf und Abs, die ein Mensch durchmacht, zu reden. Man soll es nicht einfach wegstecken und sagen: Ich bin ein harter Junge. Das ist eine der größten Gefahren“, sagt Brailsford. „Wenn dann alle ihren Beitrag leisten, wird es eines Tages zurückkommen, wenn man selbst einmal harte Zeiten durchmacht. Dann weißt du, das Team ist fähig, dir zu helfen.“ Das klingt zwar weiter sehr stark nach verbesserter Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Immerhin wird aber die gesamte Sportlerpersönlichkeit ernst genommen. Außerdem berichtet Peters, dass er die eine Hälfte seiner Zeit mit den Sportlern verbringt, die andere Hälfte aber damit, den Betreuerstab zu sensibilisieren. Ein interessanter Ansatz.

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