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DER BUNDESTRAINER und der Balljunge: Alles gut, Fehler erlaubt

Nicht mehr lange bis zum Anpfiff. Gleich beginnt das Spiel der Deutschen gegen die Niederländer, von dem gesagt wird, es sei so wichtig, mindestens das wichtigste seit dem gegen die Portugiesen.

Nicht mehr lange bis zum Anpfiff. Gleich beginnt das Spiel der Deutschen gegen die Niederländer, von dem gesagt wird, es sei so wichtig, mindestens das wichtigste seit dem gegen die Portugiesen. Woher nimmt Joachim Löw also diese Gelassenheit? Wir können es nicht sagen. Wir können nur sagen: Er hat sie.

Er schlendert durch die Coaching Zone wie Gunter Sachs über die Promenade de la Croisette, richtet den hochgekrempelten Ärmel, richtet die Frisur. Aber was heißt hier „richtet“? Es gibt da nichts zu richten, er überzeugt sich vielmehr vom perfekten Sitz jedes Details an ihm und erfreut sich daran. Er kaut Kaugummi. Geschmacksrichtung Zuversicht. Dann sieht er den Balljungen.

Der junge Ukrainer steht am Spielfeldrand, den Ball unterm Arm, dienstfertig, allzeit bereit und geradezu bestrickend anständig. Ein guter Junge, man sieht es ihm an. Seine Aufgabe ist nicht schwer, er hat sie geübt: Er muss im gleich beginnenden Spiel dem Einwerfenden den Ball so schnell wie möglich aushändigen. Und doch sieht man ihm die kleine, große Furcht an, etwas falsch zu machen, daneben zu werfen, auszurutschen, sich zum Gespött zu machen von Milliarden von Fernsehzuschauern, die EM zu sabotieren, zu versagen, oh Gott. Sein Blick ist auf den Platz geheftet, dort will er schon jetzt nichts verpassen, er darf nicht versagen, bloß nicht versagen. Er ahnt nicht, dass von hinten Gunter Sachs herangeschlendert kommt.

Und der plant einen Streich. Er taxiert den Ball, schätzt die Festigkeit des Griffs, spitzt den Bundestrainermund zum Fuchsmund. Und plötzlich, blitzschnell, fast nicht zu sehen, stupst er ihn an, der Junge zuckt zusammen, doch zu spät, der Ball ist weg. Ein Steal, wie man im Basketball sagen würde.

Der Balljunge fährt erschrocken herum. Was war das? Und er weiß nicht, was er schlimmer finden soll: Dass der Ball futsch ist oder vor ihm mit einem Mal der deutsche Bundestrainer steht. Er geht einen Schritt zurück, aus Angst vor Strafe, dass er diese Prüfung nicht bestanden hat, und zugleich bereit, sie zu empfangen. Eine halbe Sekunde vergeht, höchstens. Und doch dauert es lange, quälend lange, bis Löw ihm endlich die Hand auf die Schulter legt. Ich bin’s, der Jogi. Entspann dich, Junge. Alles gut. Selbst wenn dir der Ball mal runter fällt. Fehler erlaubt. Er lacht. Der Junge lacht. Wer das sieht, lacht auch.

Und er kann sich nun ein bisschen besser vorstellen, woher die gute Stimmung in der Nationalmannschaft rührt. Die Gelassenheit. Das irgendwie mittelmeerische Denken.

24 Minuten später schießt Mario Gomez das 1:0. Der Ball zappelt im Netz der Niederländer. Vielleicht ist es der, den Löw vorhin geklaut hat. Bei ihm ist ja immer alles geplant. Auch wenn es so leicht aussieht. Dirk Gieselmann

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