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Sport: Der bunte Vogel ist ausgeflogen

Nach fünf Jahren in Berlin verlässt Marcelinho Hertha BSC

Berlin - Anfang der Woche, bei einer seiner letzten Trainingseinheiten für Hertha BSC, hat Marcelinho wieder einmal seine Ausnahmestellung dokumentiert. Nach einem ausgiebigen Trainingsspiel sollten die Profis des Berliner Fußball- Bundesligisten noch eine Laufübung absolvieren. Marcelinho trottete als Erster zum Start. Trainer Falko Götz sagte den Spielern, sie sollten ihre Leibchen ausziehen. Der Brasilianer hörte es nicht, und so stand er plötzlich als einziger Gelber unter lauter roten Kollegen.

Marcelinho ist immer ein bunter Vogel gewesen: Er hat seine Haarfarbe häufiger gewechselt als normale Menschen ihre Zahnbürsten, und irgendwann muss der Brasilianer gedacht haben, dass seine Frisur ein wichtiges Thema für die Öffentlichkeit sei. Die Boulevardzeitungen wollten immer dabei sein, wenn er wieder einmal einen Termin zum Schneiden und Färben wahrnahm, sie haben auch jede seiner neuen Tätowierungen akribisch dokumentiert, und über all diesen Nebensächlichkeiten konnte man schnell vergessen, dass Marcelinho vor allem ein Fußballer ist. Ein ziemlich guter sogar.

„Das Herz sagt: Er hat uns große Momente gegeben. Das hat hier keiner vergessen“, sagt Herthas Manager Dieter Hoeneß. „Aber er hat auch große Probleme gemacht. Rational gab es keine andere Entscheidung.“ Deshalb endete gestern nach fünf Jahren die Zusammenarbeit zwischen Hertha BSC und Marcelinho. In der Nacht zum Samstag, um halb drei, fiel nach insgesamt 25 Stunden Verhandlungen die Entscheidung: Der Brasilianer wechselt zum türkischen Erstligisten Trabzonspor und erhält dort einen Dreijahresvertrag. Die Berliner sollen für den Verkauf des Mittelfeldspielers 2,5 Millionen Euro Ablöse bekommen, mit der sie nun noch einen Stürmer verpflichten wollen.

Auch in diesen Tagen, da Marcelinho mal wieder mit allem anderen Aufsehen erregt hat, musste man nur ein bisschen genauer hinschauen, um seine fußballerischen Fähigkeiten zu entdecken. Die Berliner spielten im Training auf engem Raum: Sie sollten dribbeln, den Ball behaupten, schnell passen, sich anbieten. Sie spielten das Spiel ziemlich lange, und in der ganzen Zeit verlor Marcelinho nicht ein einziges Mal den Ball.

Fünf Jahre lang stand der Brasilianer bei Hertha BSC unter Vertrag, und in jedem dieser fünf Jahre hat er die meisten Tore für seine Mannschaft erzielt, 65 insgesamt in 155 Spielen. Doch Marcelinho war mehr als nur der beste Torschütze, in seinen besten Zeiten war Marcelinho Hertha. Spielte er gut, spielte auch die Mannschaft gut, und umgekehrt war es genauso. „Als ich in Wolfsburg Trainer war, habe ich Marcelinho aus dem Spiel genommen, und Hertha war besiegt“, hat Herthas ehemaliger Trainer Jürgen Röber einmal gesagt.

Marcelinho ist jetzt 31, sein Vertrag wäre im kommenden Sommer ohnehin ausgelaufen. Hertha hat schon vor einiger Zeit den Emanzipationsprozess eingeleitet, der mit dem Verkauf des Brasilianers nun endgültig abgeschlossen ist. Die Berliner haben Gilberto und Yildiray Bastürk geholt, zwei technisch gute Spieler, und schon in der vergangenen Saison hat Bastürk weitgehend die Rolle des Spielmachers ausgefüllt, während Marcelinho immer weiter in den Sturm rückte. Schleichend ist ihm bei Hertha das Vertrauen entzogen worden, das er in immer kürzeren Abständen enttäuscht hat.

Die Liste seiner Verfehlungen ist lang, doch Marcelinho musste erst zum vierten Mal hintereinander den Trainingsauftakt verpassen und gleich zehn Tage zu spät aus dem Sommerurlaub nach Deutschland zurückkehren, ehe Manager Dieter Hoeneß die Geduld verlor. „Marcelinho hat einen besonderen Wert für die Mannschaft, deshalb genießt er eine Sonderstellung“, hat Hoeneß vor etwas mehr als einem Jahr gesagt. Das erklärt die Nachsicht, die er lange hat walten lassen.

Mit Marcelinho war es jedenfalls nie langweilig. Er feierte bis morgens um halb fünf Karneval – nachdem die Mannschaft gerade aus dem Uefa-Cup ausgeschieden war. Er fuhr betrunken über den Kaiserdamm – mit 120 Stundenkilometern. Er schlug Kapitän Arne Friedrich ins Gesicht, weil der ihn zu mehr Einsatz in der Defensive angehalten hatte – und kam tags darauf als Zeichen tätiger Reue eine halbe Stunde zu spät zum Training. Sonntags kam er oft gar nicht, weil er sich krank gemeldet hatte. Oder er brachte seine beiden Kinder mit zum Trainingsplatz. „Du musst hoffen, dass vernünftige Spieler wie Niko Kovac oder Christian Fiedler das nicht auch machen“, hat Herthas früherer Trainer Hans Meyer einmal gesagt. „Sonst braucht du gar nicht mehr zu trainieren, sondern kannst gleich einen Kindergarten aufmachen.“

Marcelinho war nie vernünftig. Er hat Fußball gespielt, gelebt und gefeiert. Er hat seine Freunde mitgebracht aus Paraiba, einer armen Provinz im Nordosten Brasiliens, und ihnen den Daueraufenthalt in Berlin finanziert. Marcelinho brauchte ein bisschen Heimat in der Fremde, und er konnte den Gönner spielen. Das hat er so lange getan, bis er selbst fast pleite war. Doch kaum hatte Hertha ihm einen Finanzberater besorgt, wurde bekannt, dass Marcelinho mit einem Bekannten in der Nähe des Ku’damms Räume für eine Diskothek gemietet hatte.

„Er hat eine sensible Seele“, sagt Hoeneß. Und man kann sich schon jetzt ausmalen, dass Marcelinho in Trabzon am Schwarzen Meer nicht glücklich werden wird. Gestern Vormittag flog der Brasilianer an seinen neuen Arbeitsplatz, heute soll er noch einmal nach Berlin kommen, damit er sich von der Mannschaft verabschieden kann. Es wird vermutlich, trotz aller aktuellen Verwerfungen, ein sehr rührseliger Abschied werden.

Marcelinho hat ein fast kindliches Gemüt, und er hat immer versucht herauszufinden, wo seine Grenzen liegen. Herthas ewige Nachsicht ist daher bei ihm vor allem als falsches Signal angekommen: dass er nämlich fast alles darf. Wenn er doch bestraft wurde, reagierte er wie ein trotziges Kind. Seine auffälligsten Leistungen zeigte Marcelinho, nachdem er kritisiert worden war. Im vergangenen Jahr, im ersten Spiel nach der Attacke gegen Friedrich, erzielte er zwei Tore, davon eins aus fast 50 Meter Entfernung. „Das ist das wichtigste Tor meiner Karriere“, hat Marcelinho anschließend gesagt.

Vielleicht hat er gedacht, dass es auch diesmal wieder so laufen würde: dass man ihn nur machen lassen muss und dass er dann auch wieder die außergewöhnlichen Dinge machen wird. „Er verhält sich, rein sportlich, professionell“, hat Falko Götz über Marcelinhos Verhalten im Training gesagt. Aber diesmal kam das professionelle Verhalten zu spät. Götz und Hoeneß haben ihm die Beteuerungen pro Hertha nicht mehr abgenommen. Mal wollte er weg, dann wieder bleiben, dann sogar bis ans Ende seiner Karriere. „Der sagt jeden Tag was anderes“, sagte Götz.

Marcelinho hat schon im Trainingslager gedämmert, dass sich die Angelegenheit diesmal schwieriger gestalten würde. Eines Abends saß er alleine auf einer Mauer vor dem Mannschaftshotel. Was er denn mache, wurde er gefragt. Marcelinho antwortete: „Ich denke über mein Leben nach.“

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