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Die Olympischen Spiele in Tokio finden ohne den Deutschland-Achter der Frauen statt.

© Helmut Fohringer/dpa

Der deutsche Rudersport in der Krise: Potsdam statt Tokio

Der Achter der Frauen hat die Olympiaqualifikation verpasst – nur sieben deutsche Boote sind in Japan dabei

Alyssa Meyer saß vornübergebeugt in ihrem Boot, erschöpft und enttäuscht gleichermaßen. Nach nur sechs Minuten, 22 Sekunden und 52 Hundertstel war ihr großer Traum mit dem Frauen-Achter vorbei, hatte sie mit ihren Teamkameradinnen bei der Qualifikationsregatta in Luzern das begehrte Ticket für Tokio verpasst. Früh abgeschlagen mussten die Ruderinnen erkennen, dass die von den Chinesinnen angeführte Konkurrenz zu stark für den deutschen Achter war. Trotz Aufholjagd auf den zweiten 1000 Metern reichte es nur für den undankbaren dritten Platz, fehlten über sieben Sekunden, um sich für die Olympischen Spiele zu qualifizieren.

Eine Enttäuschung für Meyer und den Deutschen Ruderverband, von den acht gestarteten Booten sicherte sich nur der Frauen-Doppelzweier das Weiterkommen. Damit ist der DRV in Tokio beim Kampf um Medaillen nur mit insgesamt sieben Booten vertreten. Das sind drei Startplätze weniger als noch bei den Sommerspielen 2016 in Rio. „Ich bin enttäuscht. Eigentlich hatte ich gedacht, wir schaffen mit insgesamt neun Booten die Quali“, sagte DRV-Cheftrainer Ralf Holtmeyer.
Es war ein Wochenende, bei dem schon die Vorzeichen nicht die besten waren. Die Schweizer Stadt am Rotsee hatte die Athletinnen und Athleten mit Regenfällen und böigem Wetter begrüßt. Eine ungemütliche Situation, aber durchaus machbar, wie Meyer nach ihrer Ankunft am Mittwoch noch zuversichtlich meinte. Schließlich war sie erst kurz zuvor mit dem Achter beim Trainingslager in Ratzeburg bei ähnlichen Bedingungen im Wasser gewesen und hatte sich Tag für Tag wesentlich höheren Wellen stellen müssen.

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Dann allerdings nahm auch in Luzern die Windstärke kontinuierlich zu, verschlechterten sich die Aussichten für das für Montag angesetzte Finale, sodass das Veranstaltungskomitee reagieren musste und die Entscheidungsläufe einen Tag vorverlegte. Nach dem Bahnverteilungsrennen am Samstag, bei dem der Frauen-Riemen den vierten Platz belegt hatte, entfiel daher ein Großteil der Regenerationsphase, mussten Meyer und Co. schnell Wege finden, um sich auf das für sie „wichtigste und schnellste Rennen ihres Lebens“ zu fokussieren.

Doch dafür hatten die Frauen ebenso trainiert. Jede von ihnen hat über die Jahre ihre eigene Routine entwickelt, versucht mit Yoga, Meditation oder Spaziergängen die richtige Balance zwischen Entspannung und Fokussierung zu finden. „Das haben wir oft geübt und ist genauso Teil der Vorbereitung wie das Sportliche”, sagt Meyer, die ihre Ablenkung in den regenfreien Stunden im Grünen suchte. Die Ruderin hat mittlerweile gelernt, sich ihre eigene Blase aufzubauen. Sie beschäftigt sich nicht mit dem Hätte, Wenn und Aber, sondern versucht sich ganz auf das bevorstehende Rennen zu konzentrieren, nicht über die, wenn auch unangenehmen, Verhältnisse zu klagen, sondern mit dem zu arbeiten, was sie hat.

Anders wäre die Vorbereitung für die 26-Jährige nicht möglich gewesen. Diskussionen um die Olympischen Spiele an sich, steigende Corona-Zahlen oder eine eventuelle Neuverschiebung musste sie ausblenden, um ganz und gar im Trainingsmodus zu sein. Denn wie oft wurden in der vergangenen Zeit Wettkämpfe abgesagt oder neu terminiert, Trainingslager gecancelt und so mehrmals die Planung der Sportlerinnen durcheinandergeworfen.

„Das war natürlich sehr schwer. Vor allem wenn man sieht, dass die anderen Nationen im Wasser sind. Das nagt an dir. Teilweise wurden die Reisen erst einen Tag vorher abgesagt, sodass wir schon auf gepackten Koffern saßen und dann doch zuhause bleiben mussten“, blickt Meyer zurück. Anstatt nach Spanien oder Portugal zu fliegen, verblieb Meyer mit 13 weiteren Ruderinnen aus ganz Deutschland meist im vor zweieinhalb Jahren extra formierten Olympia-Stützpunkt in Potsdam.

Und auch hier konnte der Achter-Kader sich nicht durchgehend in den Krafträumen betätigen oder gemeinsam Bahnen auf der Havel vorbei am Neuen Palais oder an der Glienicker Brücke ziehen, sondern musste wie viele andere Sportler coronabedingt interimsmäßig Einheiten in der eigenen Wohnung absolvieren. „Da hatte man schon Sehnsucht, sich wieder mit den Mädels ins Boot zu setzen und auf dem Wasser zu sein“, erinnert Meyer und hebt neben der sportlichen die mentale Komponente hervor, die ihr und dem Team zu schaffen machte.

Für dauerhafte Aufmerksamkeit braucht es aber vor allem eins: Erfolge

Ein wichtiger Pfeiler der Krisenbewältigung war Trainer Tom Morris, der im Zusammenhang mit der Neuausrichtung in Potsdam im Jahr 2019 das Amt übernommen hatte. Gleichermaßen Psychologe half der gebürtige Australier den Sportlerinnen die ungewohnten Herausforderungen zu überstehen. „Er hat uns da sehr viel beigebracht. Am Ende haben wir das gut weggesteckt und sind nur noch stärker zusammengewachsen“, sagt Meyer, die von Morris nur Turtle genannt wird, weil sie beim Rudern im Boot säße wie eine Schildkröte: mit rundem oberen Rücken, den Kopf immer leicht nach vorne herausgestreckt.

Unverkennbar stach Meyer mit dieser Haltung auch bei den Ruder-Europameisterschaften 2020 aus dem Team hervor, als sie im polnischen Poznan mit dem neu aufgestellten Achter sensationell Silber und damit die erste Medaille nach sechs Jahren gewann. Zuvor in den Schatten der Männer geraten, die ihrerseits aufgrund regelmäßig guter Platzierungen nicht nur als Flaggschiff der Ruderer gelten, sondern den Namen „Deutschland-Achter“ schon fast selbstverständlich für sich beanspruchen, erhöhte sich mit dem Überraschungserfolg der Frauen gleichermaßen das Interesse der Öffentlichkeit.

„In den letzten Jahren hatten wir Probleme mit unseren Leistungen, da kann man das nachvollziehen, dass der Männer-Achter eher im Fokus steht. Aber seit letztem Jahr hat sich da einiges getan“, sagt Meyer und verweist auf eine gestiegene mediale Anerkennung, die bessere Nutzung der soziale Netzwerke und eine erfolgreichere Sponsorenakquise. „Da haben sich durch den Erfolg einige Türen geöffnet und das ist auch gut so.“ Für dauerhafte Aufmerksamkeit braucht es aber vor allem eins: Erfolge. Und die konnte der Achter an diesem wichtigen Wochenende in Luzern nicht verzeichnen, eine zweite Chance für Olympia wird es nicht geben. Wie schon vor fünf Jahren, werden die Frauen die Spiele nur vorm Fernsehen verfolgen können. Doch wenngleich die Enttäuschung darüber noch eine Weile anhalten wird, Alyssa Meyer hat mit ihrem Team den ersten Schritt aus der Vergessenheit geschafft und es bleibt zu hoffen, dass sich der Frauen-Riemen für die harte Arbeit zukünftig besser belohnt und wieder an die Weltspitze anknüpfen kann.

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