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Tor ist Tor. Thomas Müller freut sich über jeden Treffer.

© Imago

Der Dusel-König des FC Bayern München: Thomas Müllers wunderbare Gurkentore

In der EM-Qualifikation gegen Schottland schoss Thomas Müller wieder mal zwei Tore, die wie Zufallsprodukte aussahen. Doch sie beruhen auf einer Kunst, die nur er beherrscht.

Der Zufall nervt. Ja, schon klar: Rein statistisch gesehen, profitiert man auch mal von ihm. Der herabstürzende Toast müsste eigentlich in der Hälfte aller Fälle mit der Marmeladenseite nach oben landen, in der eigenen Wahrnehmung tut er genau das aber so gut wie nie. Was den Zufall anbelangt, dürften die meisten von uns Pessimisten sein: Er begünstigt immer nur die anderen. Erst recht, wenn es um Fußball geht. Wie gesagt: Der Zufall nervt.

Es sei denn, man ist im weitesten Sinne mit dem FC Bayern verbandelt. Dort gibt es den Zufall nicht, es hat ihn nie gegeben. In den seltenen Fällen, da das Schicksal dem Klub nicht hold war, hat man das dort nicht schulterzuckend als zwar unerfreuliche Zumutung hingenommen, die sich aber bei nächster Gelegenheit schon wieder ausgleichen würde. Nein, es war jedes Mal mindestens eine Tragödie, die die tiefgreifende Frage nach der Gerechtigkeit des Lebens schlechthin aufwarf: Womit um alles in der Welt haben wir das verdient?

So war es beim Champions-League-Finale 1999 gegen Manchester United, das in den Schlusssekunden denkbar dramatisch verloren ging, weil, so erschien es den Bayern offenbar, irgendeine schwer angetrunkene Gottheit die Kontrolle darüber verloren hatte, wie dieses Spiel den Naturgesetzen nach auszugehen hätte. Allermeistens jedoch, das bestimmt sowohl das Eigen- als auch das Fremdbild der Bayern, profitieren sie vom Zufall. Sogar so oft, dass es dafür einen eigenen Begriff dafür gibt: Dusel.

Dusel ist also das Wort für ihre gigantische Willenskraft

Freilich, sie haben über die Jahre die Gabe entwickelt, Momente erzwingen zu können, in denen der Dusel den Rest erledigt. Das ist eine athletische und psychologische Kompetenz, die man neidlos anerkennen muss, die man, auch wenn das leichter zu ertragen wäre, nicht mit Arroganz verwechseln darf und für die der volkstümliche Begriff des Glücks allzu unpräszise ist. Glück ist etwas, was einem zufällt, aber die Bayern reißen den Triumph ja vom Ast wie einen reifen Apfel, während ihre Gegner gar nicht so hoch langen können.

Dusel ist also das Wort für ihre gigantische Willenskraft, auch wenn es etwas täppisch klingt – ganz so, als wäre ihnen selbst schwindelig. Dabei haben sie im Gegenteil alles unter Kontrolle – schwindelig ist vielmehr den anderen, vor deren Augen sich ein 1:0 soeben in ein 1:2 verwandelt hat. Der Dusel gehört zur Entität des FC Bayern wie der signature sound zu einer Band. Irgendwann tritt er zu Tage wie ein aus dem Refrain hervorkreischendes Saxophonsolo. Beides ist natürlich Geschmacksache.

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Der Mann, der diesen Sound so verlässlich liefert wie einst Clarence Clemons in Bruce Springsteens E Street Band ist Thomas Müller. Er ist die Krone der Dusel-Evolution, in ihm vereinen sich die Fortune Franz Beckenbauers, die Instinktsicherheit Gerd Müllers und die Entschlossenheit Stefan Effenbergs: Müller ist ein ehrgeiziges Sonntagskind, das aus keiner Chance ein Tor macht.

Er ist der Dusel-König

Auch hier gilt: Müllers Treffer können kein Zufall sein und schon gar kein Glück, dazu fallen sie viel zu oft – 76 sind es bislang für den FC Bayern, 30 für die Nationalmannschaft. Es muss, auch wenn man es im Einzelfall kaum erkennen kann, ein Prinzip dahinter stecken, wie seine Schüsse immer wieder abgefälscht werden, wie er die Bälle, in der Luft zu einer grotesken Figur verrenkt, mit Stirn, Nase oder Zunge über die Linie drückt, sie hineinstochert, abstaubt, wie er nutznießt, immer wieder der lachende Dritte ist.

Nach seinen beiden Treffern im EM-Qualifikationsspiel gegen Schottland schrieb ein Autor von „Spiegel Online“, Müller sei ihm „unheimlich“. In der Tat kann es einem suspekt vorkommen, dass ein Spieler mit dem Bewegungsablauf eines jungen Rentieres, das in einen Nagel getreten ist, derart erfolgreich ist. Doch nur, wenn man Erfolg zwingend mit Schönheit assoziiert und ihn bei ausbleibender Schönheit für Zufall hält. Müllers Geheimnis besteht in seinem Verzicht auf Schönheit: Hauptsache, das Ding ist drin. Er ist der wohl nüchternste Profi in einer in disneyhafte Perfektion verknallten Fußballwelt, die Youtube-Megastars wie Lionel Messi und Cristiano Ronaldo huldigt. Das Nächstliegende wirkt darin unfassbar: Dass da jemand Tore nur um ihrer selbst willen schießt. Ohne Schnörkel, ohne Manierismen. Das macht Thomas Müller so unberechenbar, so gefährlich.

Er spielt Fußball, wie andere Flipper spielen

Zuweilen scheint es, als suche dieser Müller regelrecht die Beine seiner Gegenspieler, um mit ihrer Hilfe seine Schüsse unhaltbar abzufälschen – und er findet sie, je dichter die Abwehrbollwerke werden, die sich vor seiner Mannschaft aufbauen, umso öfter. Und wenn nicht, benutzt er eben sein eigenes Standbein. Er spielt Fußball, wie andere Flipper spielen. Er ist der Pinball Wizard.

Im Studio von RTL sagte er am Montagabend, angesprochen auf seine beiden signature goals gegen Schottland, er schiebe regelmäßig Sonderschichten, um solch wunderbare Treffer zu erzielen. Kleiner Scherz. Müller spielt damit, dass die Leute ihn latent für harmlos halten, weil er solch seltsame Tore schießt, hinter denen eigentlich keine Absicht stecken kann. Jedes von ihnen sieht ja tatsächlich so aus, als wäre es sein erstes und sein letztes gewesen, als hätte hier jemand einfach nur Glück gehabt. Wie ein Zufall. Und er selbst lacht dann immer so halbirre, als könnte er es selbst kaum fassen, dass einer wie er einen Blumentopf gewinnt. 

Doch ebensowenig wie beim FC Bayern, dem Verein, in dem er groß wurde, bei dem er als D-Jugendlicher Patrik Andersson in der vierten Minute der Nachspielzeit den Freistoß von Hamburg hat verwandeln sehen, mit dem er an drei Champions-League-Endspielen teilnahm und vier Mal Deutscher Meister wurde, in dem er von klein auf lernte, dem Schicksal Befehle zu erteilen, kennt Thomas Müller keinen Zufall. Er ist der Dusel-König. Der Mann, der das Glück erzwingen kann.

Dieser Text erscheint mit freundlicher Genehmigung des Fußballmagazins 11FREUNDE.

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