zum Hauptinhalt

Sport: Der einarmige Torhüter

Matthias Thiemann verlor bei einem Unfall einen Arm und spielt trotzdem in der dritthöchsten Klasse Handball

Korschenbroich. Matthias Thiemann kann zurzeit beim besten Willen nicht Handball spielen. Sein Knie schmerzt schon bei alltäglichen Dingen wie Treppensteigen oder Autofahren. Die Patellasehne ist gereizt, und nächste Woche hat Thiemann einen Termin beim Arzt. Dann erfährt er, wann er operiert werden wird. Die Ärzte haben ihm gesagt, dass es kein großer Eingriff sein werde, und was den Fortgang seiner sportlichen Karriere beim niederrheinischen Handball-Regionalligisten TV Korschenbroich angeht, „da mache ich mir eigentlich nicht so die Gedanken“. Matthias Thiemann hat Schlimmeres überstanden.

Ein Samstag im März 2001. Thiemann, damals 24 Jahre alt, arbeitet bei einem Gartenbauer, um sein Studium zu finanzieren. Am Vormittag hat er mit Kollegen Bäume gefällt, die Stämme und Äste müssen noch geschreddert werden, danach hat Thiemann Feierabend. „In zehn Minuten ist Wochenende." Das ist das Letzte, was Matthias Thiemann denkt, bevor seine Erinnerung aussetzt. Als sie wieder einsetzt, steckt er mit dem rechten Arm bis zum Ellenbogen in der Häckselmaschine. Thiemann verspürt keinen Schmerz, wahrscheinlich liegt das am Schock. Seine Kollegen bittet er, bei dem Verleiher der Maschine nachzufragen, „wie man mich da raus kriegt“. Dann sagt Thiemann: „Ruft meinen Trainer an, dass ich nicht zum Spiel kommen kann.“

Der Häcksler schreddert Baumstämme mit bis zu 16 Zentimeter Durchmesser. Thiemanns Arm hat keine Chance. Der Notarzt gibt ihm eine Betäubungsspritze, und als Thiemann wieder aufwacht, ist sein rechter Unterarm genau im Ellenbogengelenk amputiert worden. Der TV Korschenbroich verkündet, dass Matthias Thiemann nie mehr Handball spielen kann.

Erst im Sommer zuvor war Thiemann aus der Bezirksliga nach Korschenbroich gewechselt, und langsam hatte er sich an die Stammmannschaft herangekämpft. Aber, sagt Wolfgang Brandt, der Trainer, „er hatte es weiß Gott noch nicht geschafft“. Nach seinem Unfall erhält Matthias Thiemann einen Anruf von Bayer Leverkusen, Abteilung Behindertensport. Ob er nicht mal vorbeikommen und sich das anschauen wolle. Thiemann geht nie hin. Er hat längst andere Pläne.

Schon im Krankenhaus hatte Thiemann angefangen, auf dem Band zu laufen. Nach seiner Entlassung übt der frühere Rechtshänder das Werfen mit der linken Hand, und als er zum ersten Mal wieder zum Training seiner alten Mannschaft kommt, erzählt er Trainer Wolfgang Brandt, die Ärzte hätten ihm erlaubt, Fußball zu spielen. Das ist gelogen. Wenn Trainer Brandt daran denkt, was Thiemann bei einem Sturz hätte passieren können, „bekomme ich heute noch Bauchschmerzen“.

Ein Arzt hat Thiemann gesagt, man könne ihm ja eine Prothese fürs Tor bauen. „Darauf habe ich ihn festgenagelt“, sagt er. Doch es dauert mehr als ein halbes Jahr, bis die Prothese fertig ist. Thiemann wird zum ersten Mal eingewechselt gegen einen Gegner, der seine A-Jugendlichen spielen lassen muss. Korschenbroich führt schon zur Halbzeit deutlich. Da macht es nichts, „dass ich natürlich nicht gut gehalten habe“, sagt Thiemann. Dass er überhaupt wieder Handball spielen kann, „das war der Hammer“.

Seine Prothese, die er manchmal „meine bessere Hälfte“ nennt, ist aus Karbon. Damit er die gegnerischen Stürmer bei einem Zusammenprall nicht verletzt, ist sie mit einer drei Zentimeter dicken Schaumstoffschicht überzogen. Der Westdeutsche Handball-Verband hat sein grundsätzliches Einverständnis gegeben, dass Thiemann mit dieser Prothese spielt. Der jeweilige Schiedsrichter aber muss einem Einsatz vor jedem Spiel zustimmen. Bisher hat noch niemand protestiert.

Thiemann kann die fünf Kilogramm schwere Prothese nur wie eine Bahnschranke auf und ab bewegen, einknicken kann er den Unterarm nicht. Weil ihm das Ellenbogengelenk fehlt, geht zudem die ganze Wucht der Bälle in die Schulter. Die Ärzte haben ihm gesagt, das werde die Schulter wohl nicht aushalten. Doch Thiemann macht ein spezielles Muskeltraining. Es geht. Probleme gibt es nur, wenn er die Prothese schlampig angezogen hat. Dann bildet sich an der Druckstelle schon mal eine Blase. Aber so etwas steht er durch. Das sind keine Schmerzen, die ihn groß belasten.

Matthias Thiemann sagt: „Ich wollte alles, was ich erreicht hatte, wieder erreichen. Das habe ich geschafft.“ Sogar mehr als das. In dieser Saison ist er das geworden, was er vor seinem Unfall noch längst nicht war: Stammtorhüter der Korschenbroicher, und das immerhin in der dritthöchsten deutschen Spielklasse. Auf seiner rechten Seite hält er inzwischen genauso gut wie auf seiner linken, und Rücksicht nehme auf die Behinderung auch niemand mehr. Korschenbroichs neuer Trainer Michael Hattig sagt: „Das hier ist Leistungssport, kein Sozialplan.“ Das hört sich hart an, doch Thiemann selbst wollte noch nie, „dass ich nur wegen der Behinderung spiele“.

Wolfgang Brandt, sein früherer Trainer, hält Thiemann für „einen ganz beeindruckenden Charakter“. Und trotzdem: „Dass der das noch einmal so schafft – damit hätte ich nicht gerechnet.“ Er hat ja selbst im Training miterlebt, dass die Prothese anfangs bei harten Würfen einfach durch die Halle flog. „Wirklich daran geglaubt hat keiner“, sagt Matthias Thiemann. „Ich eigentlich auch nicht.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false