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Selbstbewusste Einschätzung. „Je öfter ich den Ball habe, umso dominanter spielen wir – und umso öfter gewinnen wir“, sagt Kroos.

© dpa/Becker

Der Fixpunkt für Bundestrainer Löw: Toni Kroos - begabt als Dirigent, talentfrei als Entertainer

Seine Passgenauigkeit erreicht kein Zweiter. Er verleiht dem Spiel der Nationalelf Takt und Tempo - und wird trotzdem noch nicht richtig wahrgenommen.

Kennen Sie Toni Kroos? Nein, dann geht es Ihnen wie einem Viertel der Deutschen. Nach einer frischen Umfrage vor der EM erreicht der 26 Jahre Fußball-Nationalspieler einen Bekanntheitsgrad von 75 Prozent. Bastian Schweinsteiger zum Beispiel, seinen Weltmeisterkollegen, kennen 95 Prozent aller Deutschen. Was allerdings auch daran liegen mag, dass der beinahe 32-Jährige in den beiden vergangenen Jahren immer häufiger Zeit hatte, seine neue Freundin, die serbische Tennisspielerin Ana Ivanovic, auf ihren Turnieren zu besuchen, was viele bunte Geschichten hergab.

Insofern ist es wohltuend, dass es überaus aktive Fußballspieler wie Toni Kroos gibt, die in Hinsicht auf Klatsch und Tratsch noch Luft nach oben haben und einen Teufel tun, daran etwas zu ändern. Wer sich aber für den Fußball interessiert, dem sollte der gebürtige Greifswalder ein Begriff sein. Jedenfalls gemessen an seiner hohen Begabung, seiner gestiegenen Bedeutung und enormen Schaffenskraft. Seit dem Champions-League-Finale Ende Mai ist er der erste und damit auch schon einzige deutsche Fußballspieler, der mit zwei unterschiedlichen Vereinen die wichtigste Trophäe des internationalen Klubfußballs gewonnen hat, 2013 mit dem FC Bayern, vor zwei Wochen mit Real Madrid. Das kann man, in einer an Helden so reichen deutschen Historie, nicht hoch genug hängen.

Wenn die deutsche Mannschaft an diesem Sonntagabend in Lille gegen die Ukraine ihren EM-Auftakt gibt, wird Toni Kroos in ihrem Zentrum zu finden sein. So, wie es schon bei der WM vor zwei Jahren war, als er zum wertvollsten Spieler gekürt worden war. „Toni Kroos ist auf dem Platz ein Fixpunkt“, sagt Joachim Löw. Doch auch beim Bundestrainer musste er sich diese Wertschätzung, erst erspielen. Bei der EM vor vier Jahren kam Kroos nur minutenweise zum Einsatz. Inzwischen ist der Bundestrainer restlos überzeugt.

Für das deutsche Spiel besitzt Kroos eine Unverrückbarkeit, wie sie sonst nur noch auf Manuel Neuer, Jerome Boateng und vielleicht Thomas Müller zutrifft. Kroos verleiht dem deutschen Spiel Rhythmik und Statik, Takt und Tempo, Tiefe und Dominanz. Und das alles in einer selten erlebten Eleganz. Nahe der Vollendung zu erleben war das beim sagenhaften 7:1 im WM-Halbfinale gegen Brasilien. Das fand vor zwei Jahren auch die jüngst verstorbene, niederländische Fußball-Ikone Johan Cruyff: „Der Junge macht alles gut. Seine Ballbehandlung ist fast perfekt. Immer haben seine Pässe die richtige Geschwindigkeit. Schön zu sehen.“

Warum sich sein Wert noch nicht allen erschlossen hat

Vielleicht ist es ja gerade seine Begabung, schwierige Dinge auf dem Platz so leicht aussehen zu lassen, dass sich sein eigentlicher Wert zwar schon vielen, aber längst nicht allen erschlossen hat. Vielleicht fehlt ihm auch etwas das Hingebungsvolle, der Überschwang, das Emotionale, das Exaltierte? Toni Kroos hat so vieles, aber eben kein Talent zum Entertainer.

Die meisten seiner Pässe sind auch deshalb nicht exaltiert, sie sind sachlich, möchte man meinen, und in dieser Weise unerreicht. Sie sind abgegeben im rechten Moment und mit dem richtigen Timing versehen. Es gibt derzeit keinen Zweiten mit dieser Passgenauigkeit, ganz gleich, wo Kroos sich gerade im zentralen Mittelfeld aufhält. Also dort, wo im modernen Fußball der Raum am engsten und die Zeit am knappsten sind, wo sich pure Ballkontrolle in Torgefahr zu verwandeln hat.

Eine auf Affekte orientierte Spielweise würde nicht seinem Naturell entsprechen. In seiner Art Fußball zu spielen erinnert er wenig an frühere deutsche Spielgestalter und Einfädler, wie den durchaus genialen Günter Netzer, der aber – das damalige Spiel gab es her – Zeit und Raum im Überfluss hatte. Oder an Pierre Littbarski und Thomas Häßler, deren Spielweise eher von wuseligen Dribblings geprägt war. Noch viel weniger gemein hat der Kroos'sche Stil mit der von großem Ego geprägten Spiel- und Führungsweise eines Stefan Effenberg und Michael Ballack.

Toni Kroos hat etwas Leiseres, Feineres, etwas Dirigentenhaftes. Sein Tun ist sinnlich und präzise zugleich, trotzdem durchdringend und maßgeblich. Für Kenner ist seine Spielweise atemraubend, denn es braucht allerhand Übersicht, Orientierungsvermögen, Intuition und Ballgefühl dafür. Oder wie es Real Madrids früherer, argentinischer Sportdirektor und Weltmeister, der allseits anerkannte Fußballphilosoph Jorge Valdano jüngst zusammenfasste: „Mit dem Ball am Fuß gibt es kaum einen besseren.“

Er schaltet dreimal so viel Gegner aus wie ein durchschnittlicher Bundesligaprofi

Vielmehr ist es wohl seiner vorpommerschen Gelassenheit geschuldet, dass Kroos inmitten der allgemeinen Turniererregung eine beinahe lässige Ruhe ausstrahlt, die immer seltener anzutreffen ist in der mega-gehypten Branche. Jeder habe seine Stärke, hat Kroos gerade in einer kleinen Medienrunde erzählt, der nach dem Mailänder Champions-League-Finale nur zwei Tage ausspannte, ehe er zum deutschen EM-Tross stieß. „Meine ist es, oft den Ball zu haben und damit gute Sachen anzustellen. Im Endeffekt ist es so: Je öfter ich den Ball habe, umso dominanter spielen wir – und umso öfter gewinnen wir.“

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Man darf das getrost auf Real Madrid wie die deutsche Mannschaft verstanden wissen. In beiden Mannschaften, beim Champions-League-Sieger wie beim Weltmeister, erreicht er jeweils die Bestwerte in Sachen Ballkontakte und Passquote. Doch während Kritiker immer noch meinen, es werde dabei viel nutzloses Quergeschiebe mitgerechnet, gibt es inzwischen eine Datenerfassung, die objektiver als alle anderen zuvor ist. Nämlich die, wonach die mit einem Pass überspielten gegnerischen Spieler gezählt werden, die somit aus dem Spiel genommen sind. Während der Mittelwert in der Bundesligasaison für Spieler seiner Position bei 29 liegt, kommt Kroos in dieser Übung auf 85 je Spiel.

Der große Anführer mit Worten und Gesten wird Toni Kroos vielleicht nicht mehr werden. Er gehört zwar dem Mannschaftsrat an, doch wird er sich nie verbal in den Vordergrund schieben. Das können und sollen andere. Kroos wird auf seine Art auf die Mannschaft einwirken, auf dem Spielfeld, wenn er seiner Intuition folgt und mit seinen Füßen spricht. Wenn also der Ball von ihm weg Wege findet, die andere nicht sehen oder nicht bespielen können. Die, die ihn schon kennen, werden nichts anderes erwarten. Die anderen, also ein deutsches Viertel, werden ihn schon noch kennen lernen.

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