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Sport: Der natürliche Tennisspieler

Leicht, ästhetisch und diszipliniert: Roger Federer könnte mit seinem Sieg in Australien eine neue Ära begründet haben

Melbourne. Roger Federer ist erst 22 Jahre alt, aber er hat schon unzählige Male in der Zeitung lesen können, dass er mit unverschämt viel Talent gesegnet sei. Und fast genau so oft konnte er lesen, dass es an der Zeit wäre, aus diesem Talent etwas zu machen. Seit gestern kann dem Schweizer wirklich niemand mehr vorwerfen, seine außergewöhnlichen Gaben zu verschleudern. Nach dem 7:6 (7:3), 6:4, 6:2 gegen Marat Safin im Finale der Australian Open steht Federer da, wo er nach Meinung vieler schon lange hingehört. Am Montag wird er erstmals die Weltrangliste anführen, er hat in Melbourne sein zweites Grand-Slam-Turnier gewonnen, und weitere große Titel scheinen nur eine Frage der Zeit. Selbst der echte Grand Slam, der Sieg in Melbourne, Paris, Wimbledon und New York in einem Kalenderjahr ist Federer zuzutrauen. „Immerhin bin ich der Einzige, der es in diesem Jahr schaffen kann.“

Überhaupt hielt Federer seine Gefühle diesmal im Zaum. Nach seinem Wimbledonsieg war er in Tränen ausgebrochen und konnte zwischen den Schluchzern kaum einen vollständigen Satz sprechen. In Melbourne blieb Federer gefasst. „Ich wusste ja, wie es sich anfühlt“, berichtete er. „Aber innerlich bin ich immer noch aufgewühlt.“ Gegen Safin musste er nur im ersten Satz bangen. Nach Gewinn des Tiebreaks war die Partie entschieden, weil Safin, wie er selbst einräumte, „das Benzin ausging“. Die beiden Fünfsatz-Siege gegen die bisherige Nummer eins Andy Roddick und Titelverteidiger Andre Agassi steckten ihm noch in den Knochen. Für den Russen war die Rückkehr auf die große Tennisbühne trotz der Niederlage ein grandioser Erfolg.

Obwohl Safin mit seinen 24 Jahren zwei Jahre älter ist als Federer, gehört er zu der jüngeren Generation, die nun die Turniere dominieren und die alten Herrscher wie Agassi bald ganz entmachten könnte. Die jungen Spieler halten derzeit alle vier Grand-Slam-Titel. US-Open-Sieger Roddick ist fast auf den Tag ein Jahr jünger als Federer, French-Open-Sieger Juan Carlos Ferrero ist 23 Jahre alt. Alles deutet aber darauf hin, dass vor allem Federer das Herrentennis auf Jahre hin dominieren könnte. „Wenn es einen Spieler gibt, der den Grand Slam holen kann, ist er es“, sagte Altmeister John McEnroe. Als letztem Spieler ist es 1969 Rod Laver gelungen. Er ist auch der Einzige, der es zweimal schaffte.

In dem Stadion, das nach dem australischen Linkshänder benannt ist, spielte Federer alle seine Fähigkeiten aus. Es gibt keinen Schlag, den Federer nicht beherrscht. Während er früher oft Schwierigkeiten hatte, aus seinen Möglichkeiten auszuwählen, trifft er mittlerweile fast immer die richtige Entscheidung. Hinzu kommt die Fähigkeit, die Taktik seines Gegners zu erahnen. Über sein Tennis sagt Federer, dass er vielleicht das „natürlichste Spiel“ aller Profis habe.

Die Leichtigkeit seines Spiels täuscht über die Arbeit hinweg, die Federer investiert hat. „Er ist ein viel besserer Athlet, als die Leute denken“, sagt McEnroe. Und der Baseler hat früh gelernt, seine Gefühle zu kontrollieren. Dazu hat unter anderem beigetragen, dass er als Jugendlicher einmal zur Strafe für schlechtes Benehmen auf dem Platz in der Geschäftsstelle des schweizerischen Tennisverbandes Staub saugen musste.

Inzwischen bedarf es solcher Sanktionen nicht mehr, um Federers Temperament zu zügeln. Ein brummiges „Oh nein“ oder ein kurzes Selbstgespräch – mehr ist von ihm auf dem Platz selten zu hören. Derzeit hat er nicht einmal einen Trainer, nachdem er sich Ende des Jahres überraschend vom Schweden Peter Lundgren getrennt hatte. Nach dem Sieg in Melbourne dürfte es mit der Neuverpflichtung erst recht nicht eilen. Und auf eine weitere Kuh kann Federer auch verzichten. Nach dem Wimbledonsieg hatte er beim Turnier in Gstaad die dralle „Juliet“ geschenkt bekommen. „Juliet braucht keinen Freund“, warnte Federer seine großzügigen Landsleute. Wenn er so weiter siegt, könnte er sonst in ein paar Jahren ins Meiereigeschäft einsteigen.

Alexander Hofmann

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