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Eisklassig. Nach ihrem Wiederaufstieg spielen die Fußballer von Tromsö IL (hier in Rot-Weiß) wieder in der obersten Liga Norwegens.

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Der nördlichste Erstligist der Welt: Tromsö IL: Elf Eisberge müsst ihr sein

Tromsö IL ist der nördlichste Erstligist der Welt. Ganz oben in Norwegen ist Fußball noch wie früher, dort trinken Spieler noch mit Fans und der Bürgermeister tanzt. Eine Reportage jenseits des Polarkreises.

Später am Sonntagnachmittag schwenken die Herren Fußballprofis wuchtige Gläser durch die Bar, und wenn mal eins leer ist, kommt sofort Nachschub vom Fanklub „Isberget“. Das ist Norwegisch und auch für Nicht-Norweger leicht zu übersetzten: Eisberg. Darauf noch ein Bier! Benny Lekström, Miika Koppinen, Jonas Johansen und ihre Kollegen von Tromsö IL haben Durst. Von hinten prostet ihnen ihr Trainer zu und ein paar Meter weiter macht Didier Drogba ein Tor.

Es ist ein typisches Didier-Drogba-Tor, mit dem Kopf und aller Wucht, zu bestaunen auf drei riesigen Bildschirmen in allerlei Zeitlupen. Keiner schaut hin. Auch nicht bei Angel Di Marias Sprints, Oscars Tricks oder Eden Hazards Dribblings. Im brechend vollen Roger’s, der vielleicht nördlichsten Sportsbar der Welt, mühen sich beim englischen Gipfel zwischen dem FC Chelsea und Manchester United die besten Fußballspieler der Welt. Aber wer sind Di Maria, Oscar und Hazard schon gegen Benny Lekström, Miika Koppinen und Jonas Johansen? Was ist ein Spitzenspiel der Premier League gegen den Aufstieg in die Tippeligaen, das Oberhaus des norwegischen Fußballs?

Der Fußball hat sich verändert, und selten war das so deutlich zu sehen wie in diesem Jahr, mit WM-Party am Brandenburger Tor und Torlinientechnik und so. Die prominentesten Interpreten des modernen Spiels schützen sich mit riesigen Kopfhörern vor den Fragen der Basis, sie feiern in Separees und gewähren Audienzen über Facebook, Twitter und Instagram. Wer den guten alten Fußball sucht, kann es ja mal in Tromsö versuchen, am besten noch im Spätherbst, bevor die arktische Nacht die letzten Sonnenstrahlen schluckt. Im Roger’s stehen sie dann alle zusammen beim Bier. So wie damals, als die Fans noch nicht Fans hießen und mit ihren Idolen gemeinsam Siege begossen und Niederlagen beweinten, in den Kneipen, Wirtshäusern und Trinkhallen von Berlin, München oder Dortmund.

Eine Stunde vor dem Aufstiegsspiel trinken die Trainer beider Teams einen Tee zusammen.

Laut und leer. Zum Aufstiegsspiel kamen nur 4000 Zuschauer. Die Auswärtsfahrt in den hohen Norden ist bei den anderen Klubs unbeliebt. Aber die Stimmung passt.
Laut und leer. Zum Aufstiegsspiel kamen nur 4000 Zuschauer. Die Auswärtsfahrt in den hohen Norden ist bei den anderen Klubs unbeliebt. Aber die Stimmung passt.

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Zur Verkostung kommen bei der arktischen Aufstiegsfeier die Produkte aus Macks Ölbryggeri, der nördlichsten Brauerei der Welt. Jonas Johansen, 29 Jahre alt und Abwehrspieler von Beruf, hat früher am Sonntagnachmittag das Siegtor geschossen im entscheidenden Spiel gegen Fredrikstad. Tromsö ist wieder Tromsö. Die Stadt, in der so ziemlich alles das Nördlichste ist. Tromsö hat neben der nördlichsten Brauerei auch die nördlichste Kathedrale, die nördlichste Universität und jetzt endlich auch wieder den nördlichsten Erstligisten der Welt. Das Alfheim-Stadion ist das nördlichste Stadion, in dem je ein Europapokalspiel stattfand. Tromsö IL hat hier zu besseren Zeiten schon 1997 den FC Chelsea geschlagen und 2005 Galatasaray Istanbul aus dem Europapokal geworfen.

Im vergangenen Jahr aber ist der Verein aus der Tippeligaen abgestiegen, nur bedingt betrauert von der Konkurrenz aus Oslo, Bergen oder Stavanger. Tromsö ist weit weg, genau 344 Kilometer hinterm Nordpolarkreis, ungefähr auf derselben Breite wie der russische Eismeerhafen Murmansk und Point Barrow in Alaska. Die Gleise der norwegischen Staatsbahn enden 200 Kilometer weiter südlich in Narvik. Zwar beschert der Golfström Tromsö ein vergleichsweise mildes Klima, aber es hat hier auch schon mal im Juni geschneit. Wegen der zuweilen problematischen Bedingungen wird seit 2006 auf einem beheizten Kunstrasenplatz gespielt.

Eine Stunde vor dem letzten Heimspiel der Saison läuft Tromsös Trainer Steinar Nilsen seinem Kollegen aus Fredrikstad über den Weg. „Schön, dass ihr hier seid! War die Anreise gut?“ – „Alles bestens, wir sind bereit für euch!“ – „Na dann: Schönes Spiel!“ Dann trinken die beiden noch einen Tee und plaudern mit verdienten Dauerkartenbesitzern, bis sie irgendwann auf den Platz müssen, denn da ist ja noch dieses Spiel um den Aufstieg in die Erste Liga.

Wer sich einen Überblick über Tromsö verschaffen will, klettert am besten den Storsteinen hinauf, den Hausberg von Tromsö. 421 Meter über dem Nordatlantik offenbart sich eine grandiose Aussicht. Vorn erheben sich die Zacken der Eismeerkathedrale, deren eigenwillige Architektur für Nordlicht, Eis und Dunkelheit steht. Gleich dahinter folgt eine 1300 Meter lange Brücke, die seit 1960 Insel und Festland miteinander verbindet. Die Brücke führt steil nach oben und macht in der Mitte einen Knick, was ein wenig an eine Skischanze erinnert. Von der Brücke ziehen sich die Hafenanlagen hin bis zum Stadtzentrum, und wenn die Sicht klar ist, kann man auch das Alfheim-Stadion erkennen, eingebettet zwischen bunten Holzhäuschen.

Der Platzwart schaltet das Flutlicht an, mittags ist es schon dunkel.

Held im Lokal. Trainer Steinar Nilsen traf mal zum Sieg gegen Chelsea. Foto: Imago
Held im Lokal. Trainer Steinar Nilsen traf mal zum Sieg gegen Chelsea. Foto: Imago

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Der Platzwart schaltet das Flutlicht an, es ist ja auch schon bald zwölf Uhr mittags. Zwischen dem 21. November und dem 21. Januar liegt Tromsö im Dunkeln, und nur ein Streifen am Horizont lässt in diesen Tagen erahnen, dass sich daran mal etwas ändern könnte. Als sich die Spieler nach dem Aufwärmen noch einmal in die Kabine verabschieden, wird der Kunstrasen gewässert, er schlägt an den Seiten leichte Falten. Hinter dem einen Tor steht ein weißes Holzhaus, an dessen Fassade die lokale Sparkasse wirbt. Hinter dem anderen Tor dient ein provisorisches Gerüst als Familientribüne, zum Anpfiff finden sich dort handgezählte 23 Familienmitglieder ein, die kleineren von ihnen nutzen den reichlich vorhandenen Platz zum Toben.

Steinar Nilsen nimmt Aufstellung neben seiner Trainerbank. Der Mann ist 42 Jahre alt und eine Berühmtheit in Tromsö. Steinar Nilsen hat früher für den AC Mailand gespielt und 1997 ein Tor bei Tromsös 3:2-Sieg gegen Chelsea geschossen. Noch heute ist es ein Renner auf Youtube. In der Stadiongaststätte hängt ein gerahmtes Bild, es zeigt Chelseas italienischen Star Gianluca Vialli, wie er durch das arktische Schneetreiben irrlichtert. Tromsös Manager Svein Morten Johansen war damals Viallis Gegenspieler. „Einmal hat er mir den Ellenbogen ins Gesicht gerammt“ – Johansen fährt sich mit den Fingerspitzen über die Wange, als sei da immer noch das Souvenir der siegreichen Schlacht zu besichtigen. „Später haben sie sich über den Schnee beschwert. Aber der kam erst in der zweiten Halbzeit, als wir schon 2:0 in Führung lagen.“

Nach dem Abstieg im vergangenen Jahr haben sie in Tromsö das Budget reduziert, nicht aber die Ansprüche. „Machen Sie das mal mit José Mourinho“, sagt Steinar Nilsen. „Halbieren Sie seinen Etat und sagen ihm, dass er trotzdem Meister werden muss. Da wird er Mister Abramowitsch aber was erzählen.“

Die Fans singen sich warm, es sind nur gut 4000, aber die machen verdammt viel Lärm. Was dann nach einer knappen halben Stunde passiert, wird die lokale Zeitung „Nordlys“ am nächsten Tag als „Explosion der Leidenschaft“ preisen. Jonas Johansen, der Held dieses Aufstiegs-Nachmittags, löffelt den Ball aus 25 Metern mit einer Raffinesse ins Tor, wie sie sonst in Didier Drogbas Premier League zu bestaunen ist.

72 000 Menschen leben in Tromsö, in jedem Jahr werden es 1000 mehr, das ist einmalig in der Einsamkeit des Nordens. Was die Fläche betrifft, ist Tromsö eine der größten Städte der Welt und mit 2558 Quadratkilometern mehr als doppelt so groß wie New York City. Bebaut ist allerdings nur ein Bruchteil. Die Gemeinde Tromsö setzt sich zusammen aus der Insel Tromsöya, dem Festlandstadtteil Tromsdalen und reichlich Umland, also Wiesen, Rentierweiden und unbewohnten Felseninseln. Alles umrahmt von Schären, Fjorden und den knapp 2000 Meter hohen Gipfeln der Lyngsalpen.

"Ist das euer Stadionsprecher?" "Nein, das ist der Bürgermeister."

In der zweiten Halbzeit spielt Tromsö auf das Tor vor der Familientribüne. Oben toben immer noch die Kleinen, unten bringen die Großen Sieg und Aufstieg über die Zeit. Tromsös Torhüter Benny Lekström bekommt nur einen Schuss aufs Tor, er pariert ihn trotz der in die Fingerspitzen kriechenden Kälte, die ihm in 90 weitgehend beschäftigungslosen Minuten mehr zusetzt als der Gegner. Benny Lekström kommt aus Stockholm, ein Baum von Kerl mit riesigen Händen und gewaltigem Vollbart. Früher hat er mal für Hammarby IF gespielt, wie in der guten alten Zeit schon Ronny Hellström, der berühmteste aller schwedischen Torhüter. „Hammarby ist die Seele des schwedischen Fußballs und übrigens auch gerade wieder in die erste Liga aufgestiegen“, erzählt er, und das sei doch eine wirklich schöne Parallele.

Im Tromsöer Exil steht Lekström neben dem Finnen Miika Koppinen und dem Tschechen Zdenek Ondrasek für den internationalen Einschlag einer Mannschaft, die sonst ausschließlich aus Norwegern besteht. Koppinen trägt gegen Fredrikstad zum 300. Mal das rot-weiß gestreifte Trikot und ist damit der bodenständigste Spieler einer bodenständigen Mannschaft. Das findet durchaus lobende Erwähnung. Erst im Stadion, wo das Publikum mit rot-weißen Papierschlangen und Feuerwerk die Rückkehr in die Tippeligaen feiert und die Spieler mit freien Oberkörpern der Arktis trotzen. Und später bei der Feier mit den Fans im Roger’s. Der Conferencier bittet die Helden nach draußen auf eine Bühne. Miika Koppinen bekommt ein Leibchen mit der naheliegenden Rückennummer 300. Der Conferencier singt dazu ein lustiges Lied, wie er ohnehin für viele lustige Lieder zu haben ist. Für Jonas Johansen, den Helden mit dem Löffeltor, improvisiert er ein selbst gedichtetes Stück zur Melodie, mit der die Fans vom 1. FC Union früher Torsten Mattuschka besungen haben. Der Conferencier trägt eine gewaltige silbern-goldene Kette um den Hals und auf dem Kopf eine rote Mütze, er umarmt alle Spieler und hüpft so ausgelassen über die Bühne wie keiner der Fans da unten vor dem Roger’s.

Kurze Nachfrage bei Tromsös Manager Svein Morten Johansen: „Ist das euer Stadionsprecher?“ – „Nein, das ist der Bürgermeister.“

Bei näherem Hinsehen erweist sich die gewaltige silbern-goldene Kette als hochoffizielles Amtsinsignium. Jens Johan Hjort, der erste Bürger der Stadt Tromsö, tanzt und singt und provoziert damit die Frage: Hat Klaus Wowereit wirklich ein weltweites Copyright auf den inoffiziellen Titel eines Regierenden Partymeisters? „Na, ihr seid ja lustig!“, sagt Hjort, er lacht und freut sich und erzählt, „dass ich auf Dienstreisen immer auf unsere Fußballmannschaft und unser Bier angesprochen werde. Dafür ist Tromsö in der Welt berühmt.“ Der Bürgermeister hat dem Verein sogar mal als Präsident vorgestanden, „mein erstes Spiel war das gegen Chelsea, haben Sie vielleicht schon mal gehört, hat ein bisschen geschneit“. Damals im Oktober 1997, als Svein Morten Johansen den Ellenbogen von Luca Vialli ins Gesicht bekam und Steinar Nilsen ein Tor schoss, das heute noch ein Renner auf Youtube ist.

Elf-Freunde-Romantik? "Wenn ich frei habe, fahre ich weg."

Stunden nach dem Aufstieg sitzen sie noch immer zusammen. Benny Lekström, Miika Koppinen, Jonas Johansen und die Fans vom Eisberg. Beim Karaoke-Wettbewerb singt jeder mit jedem und mit jeder Minute ein bisschen schräger. Langsam werden die Getränkemarken knapp. Fans wie geladene Gäste sind nur mit einem begrenzten Vorrat bedacht worden, denn Bier ist ein teures Gut hier, auch und gerade wenn es von der nördlichsten Brauerei der Welt kommt.

Wie lebt es sich in der Arktis, wenn die Nächte länger und die Tage dunkler werden? Benny Lekström erzählt von den vielen Cafés, die er gern und oft mit seiner Frau und den beiden Kindern besucht. Er spielt seit drei Jahren hier, wird bald 34 und seine Karriere wohl in Tromsö beenden. Und was die langen Abende betrifft: „Da rücken die Leute enger zusammen, ist schon gemütlich hier.“ Ach ja ... hinterm Polarkreis ist der Fußball an diesem Abend noch so, wie er früher war ... mit elf Freunden, die das Spiel noch lieben und eins sind mit ihrem Klub und seiner Stadt, und sei sie noch so weit weg im rauen Norden und … „Was erzählst du da, Mann?“, brummt Benny Lekström durch seinen Bart in die schwer romantische Luft. „Wenn ich mal ein freies Wochenende habe, fahre ich sofort nach Stockholm.“

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