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Sport: Der richtige Triumph der Falschen

Vermeintliche Versager haben sich in Stuttgart enorm entwickelt und ein Meisterteam gebildet

Zwanzig Minuten nach dem Ende gelang den Zuschauern im Daimler-Stadion noch eine dicke Überraschung. „Nie mehr Zweite Liga“, sangen sie plötzlich, mitten in die allgemeinen Jubelfeiern. Darauf muss man erst mal kommen: beim Anblick der Meisterschale das genaue Gegenteil zu denken. Die noch dickere Überraschung allerdings war, dass der Gesang von den Fans des FC Energie Cottbus kam, die trotz ihres Statistendaseins immer noch im Stadion ausharrten und einen Moment der Stille nutzten, um den Klassenerhalt, die Meisterschaft des Prekariats, zu besingen.

Es mag ein bisschen kleinlich sein, im Augenblick des höchsten Triumphes zur Demut zu mahnen. Aber vielleicht hätte es nicht geschadet, wenn die Stuttgarter sich dem Cottbuser Chor einfach angeschlossen hätten. Nach dem ersten Spieltag war der VfB selbst noch Tabellenletzter, die ersten beiden Heimspiele der Saison gingen verloren, und hätte die Mannschaft im dazwischenliegenden Auswärtsspiel bei Arminia Bielefeld – mit zwei Mann weniger auf dem Feld – nicht noch den Siegtreffer erzielt, hätte es an diesem Wochenende in Stuttgart wohl weder eine riesige Feier noch den Meistertrainer Armin Veh gegeben. Festzuhalten bleibt allerdings auch: Nie zuvor in der Geschichte der Fußball-Bundesliga hat sich ein Abstiegskandidat so souverän den Klassenerhalt gesichert wie der VfB Stuttgart.

Am Ende der vorigen Saison war die Mannschaft Neunter, zwölf Millionen Euro investierte der Klub im Sommer in neue Spieler, jetzt ist der VfB Deutscher Meister. Doch so einfach funktioniert das nicht. Borussia Mönchengladbach lag vor einem Jahr nur einen Punkt und einen Platz hinter den Stuttgartern, steckte kaum weniger Geld in Neuverpflichtungen (zehn Millionen Euro) – und beendet die Saison als Tabellenletzter. Weiter hätten sich die einstigen Tabellennachbarn innerhalb von zwölf Monaten nicht voneinander entfernen können.

Das wirft die Frage auf: Wie zwangsläufig ist der VfB Meister geworden? Oder andersherum: Wie zufällig ist diese Entwicklung? Im Grunde ist es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, dass die Stuttgarter den Titel geholt haben: Die Mannschaft ist eigentlich noch zu jung für die ganz großen Ziele, und sie hatte auch nicht genügend Zeit, um sich in einem gesunden Tempo zu entwickeln; doch gerade das macht die Leistung noch bewundernswürdiger. „Die Geschichte ist sensationell“, sagte Sami Khedira, der gerade seine erste Saison als Profifußballer hinter sich hat und den VfB mit seinem Tor zum 2:1 gegen Cottbus zum Meister köpfte.

Khedira, 20 Jahre alt, traf stellvertretend für die jungen Wilden des VfB, und so fand die große Geschichte auch im Kleinen noch ein passendes Ende. Das erste Tor der Stuttgarter hatte sich ebenfalls den richtigen Schützen ausgesucht: Thomas Hitzlsperger, der bereits in der Woche zuvor beim VfL Bochum den Ausgleich erzielt hatte. Acht Minuten nach der Cottbuser Führung brachte der Nationalspieler mit dem 1:1 die Zuversicht zurück nach Stuttgart.

Hitzlsperger ist beim VfB in den vergangenen Monaten zu einer Führungskraft aufgestiegen. „Es ist beeindruckend, wie er die Kurve gekriegt hat“, sagte Sportdirektor Horst Heldt. Vor einem Jahr mussten sie sogar beim VfB laut lachen, als Hitzlsperger in den deutschen Kader für die Weltmeisterschaft berufen wurde, und Trainer Armin Veh hat den Mittelfeldspieler noch im Herbst als Ochsen bezeichnet, weil er zu viel rede, anstatt ordentlich zu trainieren.

Eigentlich sind es die falschen Spieler gewesen, die den VfB zum Meister gemacht haben: Hitzlsperger, der Schweizer Linksverteidiger Ludovic Magnin und der junge Stürmer Mario Gomez. Magnin stand im Sommer schon auf der Transferliste, musste bleiben und entwickelte sich zum besten Linksverteidiger des VfB seit Michael Frontzeck aus der Meistermannschaft von 1992. Gomez und Hitzlsperger galten als Hauptschuldige für die 0:3-Niederlage am ersten Spieltag gegen den 1. FC Nürnberg. In der Woche darauf saßen beide auf der Bank. Doch Hitzlsperger hat sich längst zum Alleskönner im Mittelfeld entwickelt, und Gomez stieg zum besten Torschützen des VfB auf. Auch das stützt die These von der Zufälligkeit des Erfolges.

Aber die Zufälligkeit folgte einem klaren Konzept, das Sportdirektor Heldt und Trainer Veh in all ihren Entscheidungen geleitet hat. Wenn der frühere VfB-Spieler Hansi Müller sagt, dass die Neuverpflichtungen „praktisch durchweg Volltreffer“ waren, ist das auch das Ergebnis klarer Vorstellungen: Welche Spieler brauchen wir für unser Spiel? Welche Spieler machen die Mannschaft als Mannschaft besser? Neben dem Teamgeist war es vor allem die gesunde Struktur im Team, die der VfB seiner Konkurrenz voraushatte. „Man hatte immer das Gefühl, die Mannschaft besitzt eine gute Ausstrahlung“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. Inzwischen haben auch viele das Gefühl, dass diese Mannschaft eine gute Perspektive besitzt.

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