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Sport: Der Schlüssel zur Führung

Ein fußballtheoretischer Beitrag zu Deutschlands seltsamster Reality-Show

Auf dem Klo – mit dem „Kicker“ in der Hand und der „Sport-Bild“ zu Füßen – kommen dem Fußballfreund erfahrungsgemäß die besten Einfälle. Unlängst zum Beispiel gewahrte ich nach längerer Sitzung die Vision des Sport-Reality-Sendeformats „Deutschland sucht den Führungsspieler“, bei dem landesweit nach jenen seltenen Individuen zu fahnden wäre, ohne die erfolgreicher Fußball undenkbar scheint. Auszuwählen wäre unter 17- bis 19-Jährigen, unbedingt willigen Männlein wie Weiblein. Nicht zuletzt, um auch orgiastische Ausschweifungen zu garantieren, wäre das neuartige Konzept als einmonatiges Trainingslager im Big-Brother-Stil aufzuziehen. Dem Gewinner winkte ein Zweijahresvertrag bei Hertha BSC, über dessen Vergabe am Jury-Stammtisch Udo Lattek, Gerhard Mayer-Vorfelder sowie Stefan Effenberg entscheiden. Geben Sie es zu, das hat echten Wow-Faktor!

Der Kolumnist meldet hiermit öffentlich Patent auf dieses Fernsehformat an. Und derart sorgenfrei saniert, bleibt ihm ausreichend Muße, sich wieder wirklich ernsthaften, also fußballtheoretischen Fragestellungen zuzuwenden. Es ist auch höchste Zeit. Schließlich wird der öffentliche Fußballdiskurs seit einem Monat vom ebenso heiklen wie lästigen Begriff des Führers bestimmt, wobei sich diese Diskussion paradoxerweise mit einer wöchentlich neu zur Schau gestellten Führungsmüdigkeit etabliertester Leistungsträger verbindet.

Trat zunächst Teamchef Rudi Völler offensiv amtsmüde auf, so drohte im Anschluss Oliver Kahn mal wieder mit Karriereende oder gar Auswanderung. Kritisch in Bedrängnis geraten, kündigte darauf Analyst Günter Netzer sein meinungsführendes Boulevardengagement, bis schließlich der Kanzler höchstselbst andeutete, es möchte im Zweifelsfall auch ohne ihn gehen.

Wohin dieses kokette Gebaren führen kann, scheint gefährlich offensichtlich. Bereits ein einziger entscheidender Fehlgriff im kommenden EM-Schlüsselspiel, und schon taumelt die Nation, per isländischem Gegentor trainer-, torwart-, kritik- und kanzlerlos geworden, gänzlich führungsfrei einem eisig kalten Winter entgegen. Selbst Michael Ballack dürfte da sein entspanntes Grinsen vergehen.

Bevor das führerfixierte Fußballdeutschland aber nackt in den Wind gestellt wird, bleibt die Möglichkeit, einen weiteren Begriff öffnend ins Spiel zu bringen. Die Rede ist vom Begriff des Schlüssels, genauer, vom Begriff des Schlüsselspielers. Unter einem Schlüsselspieler wollen wir dabei einen Feldfußballer verstehen, der das ungewöhnliche Talent besitzt, einer Partie mit wenigen, überraschend ingeniösen Aktionen die verlaufsentscheidende Wende zu geben. Man darf vermuten, dass der Fußball als Ballspiel seine Attraktivität vor allem solchen Schlüsselaktionen von Schlüsselspielern verdankt. Damit wären wir beim Punkt. Zwischen Schlüsselspielern und Führungsspielern scheint im Fußball ein Ausschließlichkeitsverhältnis zu bestehen.

Typen wie Scholl, Rosicky, Hleb, Marcelinho, Mahdavikia, Neuville, Simak und Deisler, als beispielhafte Schlüsselspieler, sind nämlich eines gerade nicht und werden es auch nie sein: Führungsspieler im eminenten Sinne. Obgleich von höchst ausgeprägter Individualität, streben diese Spieler keineswegs an das Kollektiv, aus dem sie herausragen, einend in Bewegung zu setzen. Weder wollen sie andere führen, noch wollen sie sich von anderen führen lassen. Ja es scheint, als müsste solch fein strukturierten Typen die ganze Idee des fußballerischen Führerkults und Leitwolftums wesensfremd bleiben.

Allzu selten stemmen sich Schlüsselspieler gegen eine drohende Niederlage. Die Setzung ihrer wegweisenden Aktionen bleibt vom konkreten Spielverlauf vielmehr seltsam losgelöst. Der Schlüsselspieler genießt mithin das zweifelhafte Vorrecht, vor allem an sich selbst zu scheitern.

Sofern allerdings ein ausgeheckter Streich des Schlüsselspielers zum Ziel führt, ist vor allem einer gefordert: der oder die Führungsspieler der anderen Mannschaft. So betrachtet, erscheint die gewiss notwendige, viel beschworene Führungsspielergestalt als eine durch und durch sekundäre, geradezu parasitäre Erscheinung auf dem Fußballfeld.

Eine Mannschaft, die weder über Schlüssel- noch über Führungsspieler verfügt, erkennt man übrigens daran, dass ihr Spiel in öde berechenbaren Bahnen verläuft, dass sie erlittene Rückstände nicht aufzuholen und einmal erzielte Zufallsführungen nicht zu halten vermag.

Verdammt, jetzt ist es doch noch ein Artikel über die Hertha geworden. Und wer spielt, oder besser sitzt, da eigentlich seit Jahren in der Schlüsselposition? Die Suche hat begonnen.

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