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Sport: Der Schock von Cottbus

Wie die Spieler und Fans nach der schweren Verletzung des Osnabrückers Flamur Kastrati das Spiel im Stadion der Freundschaft boykottierten

Berlin - Es waren zwölf Minuten Bundesligageschichte, die kein Spieler und Zuschauer wohl je vergessen wird. Sonntag in Cottbus, Stadion der Freundschaft, Heimspiel in der Zweiten Liga gegen den VfL Osnabrück: Die Gastgeber liegen 2:0 vorne, dann passiert es: Der Osnabrücker Flamur Kastrati und der Cottbuser Markus Brzenska versuchen an der Seitenlinie einen hohen Ball zu bekommen. Sie springen zum Kopfball hoch, prallen zusammen. Was wie ein ganz normaler Zweikampf aussieht, endet im Schock. Kastrati stürzt, fasst sich kurz an den Kopf und bleibt regungslos liegen – minutenlang.

Die Stimmung im Stadion ist gespenstisch, weil jedem klar ist, dass es sich nicht um eine harmlose Verletzung handelt. Kastrati ist bewusstlos. Spätestens als der Krankenwagen aufs Spielfeld rollt, verstehen auch die Zuschauer, dass hier gerade ein 19-Jähriger um sein Leben kämpft. Bange Minuten vergehen. Kastrati, mittlerweile mit Halskrause und Atemschlauch, wird in den Krankenwagen getragen. Das ganze Stadion erhebt sich, Osnabrücker wie Cottbusser applaudieren. Die Fans rufen Kastratis Namen.

Die Uhr zeigt mittlerweile die 90. Minute an. Alle glauben, das Spiel sei jetzt vorbei. Doch Schiedsrichter Marc Seemann pfeift wieder an – er will die zwölf Minuten nachspielen lassen. Viele der 12 200 Zuschauer fordern den Abbruch. Auch die Spieler wollen nicht weitermachen. Zu tief sitzt der Schock. Den Zuschauern geht es nicht mehr um Sieg oder Niederlage, sie rufen: „Abpfeifen!“

Der Schiedsrichter spricht mit beiden Mannschaften, macht ihnen klar, dass er sich an die Regeln halten und die Verletzungszeit nachspielen lassen wird. Die Reaktion der Spieler ist in der Bundesliga-Geschichte einmalig: Die Cottbusser spielen den Ball, ohne zu laufen, zu den Osnabrückern. Die schieben ihn lustlos zurück. Zwölf Minuten geht das so – begleitet von den klatschenden Anhängern, die weiter Kastratis Namen rufen.

Dann endlich: In der zwölften Minute der Nachspielzeit erlöst Seemann alle Beteiligten. Cottbus gewinnt 2:0 – doch das ist egal. Mit gesenkten Köpfen verlassen alle Spieler den Platz. Auf der anschließenden Pressekonferenz sprechen die Trainer nur noch über die Szene aus der 78. Minute. „Man merkt in solchen Situationen, wie unwichtig ein Fußballspiel ist“, sagt VfL-Manager Lothar Gans.

Trotzdem entbrennt eine Diskussion über den Schiedsrichter. „Über seine fachliche Kompetenz kann man streiten“, sagt VfL-Trainer Karsten Baumann. „Über seine menschliche nicht.“ Auch wenn die Pause laut Reglement nachgespielt werden muss – die Länge liegt im Ermessen des Referees. „Ein Schiedsrichter kann das Spiel nicht einfach abpfeifen. Das muss im Einvernehmen mit den Spielern geschehen“, sagt Herbert Fandel, Vorsitzender der Schiedsrichter-Kommission des Deutschen Fußball-Bundes. In einer solchen Situation müsse der DFB-Beobachter am Spielfeldrand den Entscheidern helfen. „Ich hoffe auf einen Lerneffekt“, sagt Fandel. „Es gibt im Fußball Dinge, die über dem Paragrafen stehen.“

Inzwischen haben die Ärzte Entwarnung gegeben: Kastrati sei außer Lebensgefahr, wach und ansprechbar. Alle lebenswichtigen Organe seien voll funktionstüchtig, Lähmungserscheinungen gebe es nicht. Die Diagnose ergibt ein Schädel- Hirn- und ein Spinal-Trauma, also Verletzungen am Kopf und an der Halswirbelsäule. Die Ärzte glauben, dass der 19-Jährige wieder genesen wird. Am Montag bekam Kastrati Besuch von seiner Familie aus Norwegen. Für die nächsten Tage haben sich Spieler vom VfL Osnabrück angekündigt– und von Energie Cottbus.

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