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Trügerischer Jubel. Raffael (links) feiert mit Peter Niemeyer Herthas 2:1-Sieg in Dortmund, als wäre das schon der Klassenerhalt. Marcel Schmelzer (rechts) scheint zu befürchten, dass der Titel nicht mehr zu verteidigen ist. Sie sollten sich alle irren.

© dpa

Der Sensationssieg von Dortmund: Hertha und das falsche Versprechen

Am fünften Spieltag gewinnt Hertha BSC bei Borussia Dortmund. Für die Berliner deutet sich eine sorgenfreie Saison an, der BVB wirkt wie ein entzauberter Überraschungsmeister. Es kommt alles anders. Zwei Ansichten über die Macht von Momenten.

Es dauert ja immer ein bisschen. Bis der Nebel des Saisonbeginns sich sich verzogen hat und Strukturen erkennbar werden. Sieg – Niederlage – Sieg – Unentschieden. Die Saison von Borussia Dortmund begann, wie Spielzeiten von Vorjahres-Überraschungsmeistern beginnen: mit Schwung, der schnell gebremst wurde, und einer anschließenden Berg- und Talfahrt.

Johannes Schneider über eine absolute Momentaufnahme

Das 1:2 gegen Hertha am fünften Spieltag schien dann noch eine weitere Tendenz offenzulegen: dass die Mannschaft abhängig geworden war von Mario Götze. Nachdem der am vierten Spieltag in Leverkusen Rot gesehen hatte, wurde eine ideenlose und wenig passsichere Borussia im eigenen Stadion ausgekontert, an einem Spieltag, an dem der FC Bayern München 7:0 gegen den SC Freiburg gewann. Und das von Hertha! „Dortmund ohne Götze nur Grütze“, titelte am Folgetag die „Bild am Sonntag“. Es war die Zeit, da BVB-Fans sich ernsthaft Sorgen machen durften. Um Borussia. Um Götze. Um die Zukunft.

Das vielleicht Einzigartige, Unglaublichste an der Titelverteidigung des BVB ist, wie absolut sie diese Momentaufnahme konterkariert. Nicht nur, dass die Borussia wenig später eine Serie von 26 Spielen ohne Niederlage startete und zu Hause überhaupt nicht mehr verlor. Sie tat dies auch, obwohl Mario Götze vom 17. bis zum 32. Spieltag fehlte.

Dabei steht die Saison auch sinnbildlich dafür, dass es im Fußball noch so sehr die Fähigkeiten sein können, die über Sieg oder Niederlage, Meisterschaft oder Abstieg entscheiden. Für Fans erzählt sich die Geschichte einer Saison über einzelne, als schicksalhaft empfundene Momente. Über Augenblicke, in denen eine Spielzeit ihren Charakter erkennen lässt; die vermeintlich darüber entscheiden, ob eine Mannschaft nach dem fünften Spieltag von Platz acht ins Bodenlose fällt, oder von Platz elf nach vorn stürmt.

Bilder vom Sieg der Hertha in Dortmund:

Für die Borussia ergibt die Folge dieser Momente in dieser Liga-Saison die Geschichte eines nahezu zauberischen Gelingens: Vom späten Siegtor am siebten Spieltag gegen Mainz über den schwierigen 1:0-Sieg im Rückspiel gegen Hertha bis zu den Schlussminuten des Heimspiels gegen Bayern München am 30. Spieltag. Das „Hätte“ war in dieser Saison ein glücklicher Begleiter des BVB, Ausdruck eines sanften Gruselns ob dessen, was vermeintlich möglich gewesen wäre – bei weniger Schlachtenglück, einer ungünstigen Dynamik.

Man kann diesen schaurig-schönen Grusel noch optimieren: etwa, indem man Hertha-Fans dabei zuhört, wie sie heute voller Verachtung über Michael Preetz reden. Damals war er wie Markus Babbel ihre Lichtgestalt der Saisonfrühphase. Eine spannende Frage: Wäre dieser Rückweg in den Zweifel unter Umständen auch für die Sicht der Fans auf den BVB möglich gewesen? Man kann sie sich zumindest vorstellen – die Stimmen in den Kneipen, die Kloppo einen Trainer ohne Krisenkompetenz nennen; Sportdirektor Zorc das blinde Huhn, das nach Kagawa wieder nur fußlahme Vollpfosten wie Gündogan und Perisic einkauft.

Man kann derartige Gedanken maximal unnötig finden. Man kann sie aber auch einfach zulassen. Vielleicht hilft die Dankbarkeit, die sie hervorbringen, wenn der nächste Saisonbeginn ähnlich durchwachsen wird wie dieser. Vielleicht sogar, wenn die nächste Saison durchwachsen bleibt. Die Saison 2011/2012 war mehr noch als ihre Vorgängerin das absolute Glück. Das Glück, für dessen Empfinden es essenziell war, einmal zu Hause zu verlieren. Am fünften Spieltag. Als Meister. Gegen einen Aufsteiger. Und dann nie wieder.

Lucas Vogelsang über eine verblasste Erinnerung an bessere Hertha-Tage

Sie sind gerade sieben Monate alt, die Bilder dieses Spiels. Und doch so unwirklich weit weg wie die Jahre nach dem Aufstieg 1997, als die Standardpantomime von Michael Preetz noch der Jubel mit weit ausgebreiteten Armen und nicht das Leiden an der Seitenlinie war.

Es sind Bilder, die wie ausgedacht wirken, so absurd erscheinen sie aus heutiger Sicht. Wie eine Illusion, ein Betrug an der Wirklichkeit: Raffael, der Mats Hummels aussehen lässt wie eine in ihren eigenen Fäden verhedderte Marionette. Patrick Ebert, der Flanken schlägt, von denen er selbst überrascht gewesen sein dürfte. Und Peter Niemeyer, der so rastlos durchs Mittelfeld pflügt, als hätte er aus Sven Benders Becherchen getrunken.

Damals, 10. September 2011 im Dortmunder Westfalenstadion, die Saison ist noch jung, wurde der amtierende Deutsche Meister tatsächlich von Hertha BSC zum Tanz gebeten, ausgekontert, mit 2:1 besiegt. Und Jürgen Klopp schmeichelte nach dem Abpfiff: „Hertha hat brutale Qualität. Die Berliner sind kein normaler Aufsteiger.“ Michael Preetz lächelte dazu, Markus Babbel sowieso. Zwei Tage zuvor hatte er seinen 39. Geburtstag gefeiert, in Berlin herrschte Tortenschlachtstimmung. Die Zweite Liga schien so weit weg wie nie in dieser Saison. Hertha hatte den Meister geschlagen und war, so simpel funktioniert die Arithmetik der Euphorie, plötzlich selbst irgendwie Meister. Dieses Weltpokalsiegerbesieger-Gefühl aber ist, das wissen wir heute, ein trügerisches.

Das Rückspiel in Bildern: Dortmund gewinnt knapp bei Hertha.

Sieben Monate, nachdem Hertha das Westfalenstadion gestürmt und die Dortmunder selbstzweifelnd zurückgelassen hat, erinnert kaum noch etwas an dieses Spiel. Die Mannschaft tänzelt nicht mehr. Michael Preetz hat bereits im Winter das Lächeln verlernt und Markus Babbel wird seinen 40. Geburtstag wohl in Sinsheim feiern. Seit diesem Nachmittag in Dortmund konnte Hertha BSC lediglich vier weitere Spiele gewinnen, der BVB dagegen 21. So haben sich die Emotionen dann auch ins Spiegelverkehrte gedreht. Hier das Meisterlächeln Klopps, dort die Hoffnungslosigkeit eines kaum noch abzuwendenden Abstiegs, tief eingegraben in das Gesicht Otto Rehhagels. „Die Hertha ist auf einem richtig guten Weg“, hat Klopp damals gesagt. Er hat sich geirrt, so etwas passiert selbst einem wie Klopp. Das Problem ist jedoch, die Berliner haben ihm, wenn auch nur unterbewusst, geglaubt. Denn ein solcher Sieg entgegen aller Gesetzmäßigkeiten, dieses David-gegen-Goliath-Ding, verzerrt nun einmal die Selbstwahrnehmung.

Hertha ist nicht die erste Mannschaft, die das erfahren musste. Am zweiten Spieltag der Vorsaison etwa triumphierte Borussia Mönchengladbach mit 6:3 in Leverkusen. Hinterher blühten, insgeheim, europäische Fohlenträume. Klar, die Gladbacher waren ja auf einem guten Weg. Den Abstieg verhinderten sie erst in wirklich letzter Sekunde.

Auch für Hertha kam der Erfolg in Dortmund zu früh. Es wäre gesünder gewesen, die Mannschaft hätte dort verloren. Schmucklos, verdient. Wie es sich für einen echten Aufsteiger gehört. Dann wäre klar gewesen, dass diese Saison eine schweißtreibende wird, eine dreckige.

So aber war dieses Spiel ein Versprechen, das nie gehalten werden konnte. 90 Minuten im Endorphinsuff, auf die ein bis heute andauernder Kater folgte. Ein Highlight allein kann nicht entschädigen für all die Rückschläge und Enttäuschungen danach. Und in der Tristesse der Zweitklassigkeit könnten die Erinnerungen an diesen einen Festtag im Westfalenstadion ohnehin bald verblassen. Genauso wie jene an einen jubelnden Michael Preetz.

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