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Sport: Der Slalom des Lebens

Markus Anwander stieß vor einem Jahr mit der Abfahrtsläuferin Regine Cavagnoud zusammen. Die Französin starb, der deutsche Ski-Trainer kämpft sich zurück ins Leben

Von Benedikt Voigt

Berlin. Barbara Anwander weint jetzt nicht mehr so oft, wenn sie ihr Tagebuch liest. Vor Wochen liefen ihr noch manchmal Tränen über das Gesicht, wenn sie sich an das erinnerte, was vor einem Jahr passiert ist. Doch das Lesen im Tagebuch tut ihr gut. „Ich mache das jetzt ganz bewusst“, sagt Barbara Anwander, „das hilft mir beim Verarbeiten.“ Bisher ist keine Zeit dafür gewesen.

In ihren Aufzeichungen sind jene schmerzvollen Tage und Wochen niedergeschrieben, die auf den 29. Oktober 2001 folgten. Wie sie nach jenem folgenschweren Unfall beinahe täglich in Garmisch-Partenkirchen ihre Sachen packte, um nach Innsbruck ins Krankenhaus zu ihrem Mann zu fahren. Wie das damals fünfjährige Töchterchen Sovrana immer mitfahren wollte, weil es den Vater seit Wochen nicht gesehen hatte. Wie sie dem Kind erklären musste, dass es stattdessen bei Bekannten zurück bleiben müsse. „Papa hängt an ganz vielen Kabeln und schläft“, hatte Barbara Anwander gesagt. Heute ist sie stolz, dass ihre Tochter diese schwere Zeit so gut verkraftet hat. „Sie hat einen starken Charakter“, sagte die Mutter, „ganz wie der Vater.“

Markus Anwander steht an diesem Wochenende in Schweden auf Skiern, und macht das, was er immer macht. Der Nachwuchstrainer des Deutschen Skiverbandes (DSV) bereitet junge Skifahrerinnen auf die ersten Slalom-Rennen im Europacup vor. Alles ist wie immer, nur an kalten Tagen spürt er den Frost stärker im Gesicht als vor dem Unfall. Die verletzten Nerven im Mundbereich sind etwas taub, trotzdem empfindet er genau dort die Kälte als schmerzhafter. Und machmal ertappt sich der 41-Jährige, dass er beim Präparieren der Piste öfter als früher einen Blick über die Schulter wirft. „Da bin ich vorsichtiger geworden“, sagt Anwander. Er besitzt zwar keine Erinnerungen an den Unfall. „Der ganze Tag ist komplett ausgelöscht.“ Trotzdem weiß er natürlich, wenn er wieder auf die Trainingspiste rutscht, um Schnee fest zu trampeln oder ihn glatt zu streichen, dass es eine Situation wie diese war, die ihn auf die Intensivstation brachte. Und die das Leben der französischen Rennläuferin Regine Cavagnoud beendete.

Mit 120 Stundenkilometern war die Französin an jenem verhängnisvollen Tag auf dem Pitztaler Gletscher über eine Kuppe geschossen, und mit dem deutschen Trainer zusammengeprallt, der dort die Piste präparierte. Es war die entsetzliche Folge eines Missverständnisses. Die deutschen Trainer hatten mit ihren französischen Kollegen abgesprochen, dass nach vier Trainingsläufen die Piste neu präpariert werde. Die französischen Trainer aber ließen Regine Cavagnoud noch ein fünftes Mal fahren. „Die Franzosen haben sich nicht hundertprozentig rückversichert, dass die Piste frei ist“, sagt Markus Anwander. „Und wir waren der Meinung, dass niemand die Piste rennmäßig runterfährt.“ Auch andere deutsche Trainer waren zu diesem Zeitpunkt auf der Strecke. „Es hätte auch jemand anderen erwischen können“, sagt Markus Anwander. Aber es erwischte ihn.

Seine Frau hatte immer Angst um ihn gehabt, wenn er ins Trainingslager oder zu einem Skirennen fuhr. Dabei ist ein Trainer im Alpinen Skisport nicht den Gefahren ausgesetzt wie etwa ein Abfahrtsläufer in einem Rennen. Trotzdem fürchtete sich Barbara Anwander. „Ich habe immer gedacht, dass etwas beim Autofahren passieren könnte“, sagt sie, „sie sind ja viel unterwegs, und sie fahren nicht gerade langsam.“ Doch es kam ein Unglück, das niemand erahnen konnte. Bis jetzt ist kein Schuldiger gefunden, der für den Tod von Regine Cavagnoud verantwortlich gemacht werden könnte. Die Innsbrucker Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen Markus Anwander ein und bestätigte dessen Version. Regine Cavangoud hätte nicht ein fünftes Mal starten dürfen. „Obwohl ich keine Erinnerung habe, war ich mir sicher, dass ich oder andere deutsche Beteiligte unschuldig sind“, sagt der Skitrainer. „Ich fühle mich eher als Opfer.“ Inzwischen ist in Frankreich ein zweites Verfahren eröffnet worden. Darin versuchen Cavagnouds Eltern den französischen Verband und dessen Trainer zu belangen, die ihre Tochter entgegen den Absprachen auf die Piste gelassen haben. Auch Anwander ist mit einem österreichischen Anwalt vertreten, der den Prozess verfolgt. „Wenn es zu einem Schuldspruch kommt, wird meine Versicherung die Kosten für die Bergung und die Versorgung in Innsbruck einklagen“, erklärt Markus Anwander. Es geht um 150 000 bis 200 000 Euro.

Markus Anwander hat nicht den Eindruck, als würde die Familie Cavagnoud ihm noch Schuld geben. Trotzdem ist der Kontakt schlecht. Dabei lagen die Verunglückten in den ersten beiden Tagen nach dem Unfall nebeneinander auf der Innsbrucker Intensivstation und rangen um ihr Leben. Als Barbara Anwander am Bett ihres Mannes wachte, kamen auch Cavagnouds Eltern mit dem französischen Botschafter. „Die Eltern sprechen kein Deutsch“, sagt Barbara Anwander, „da habe ich versucht, mit dem Botschafter zu reden.“ Der aber habe nur unwirsch reagiert. Kurze Zeit später wurden bei der Ski-Weltmeisterin die lebenserhaltenden Maschinen abgestellt. Regine Cavagnoud war ihren schweren Kopfverletzungen erlegen. Zur Beerdigung schickte Frau Anwander einen Kranz und ein paar Zeilen des Beileids. Eine Reaktion der Familie Cavagnoud hat sie nie erhalten. „Da kam nichts.“

Das enttäuschte Barbara Anwander. Doch der Unfall brachte eine andere Freude in ihr Leben. „Die Beziehung ist intensiver geworden.“ Manchmal ertappt sie sich, dass sie ihren Mann anschaut, sich einfach freut, wie gut alles für ihn ausgegangen ist. „Er hat ein zweites Leben geschenkt bekommen.“

Markus Anwander hat den schweren Unfall körperlich und geistig verhältnismäßig gut überstanden. Neben den Nerven im Gesicht macht ihm ein zentraler Nervenstrang zwischen dem vierten und fünften Halswirbel zu schaffen. Trotzdem steht er wieder auf den Pisten. Zu keinem Zeitpunkt dachte er daran seinen Job aufzugeben. Seine Frau sagt: „Dazu liebt er das Skifahren viel zu sehr.“ Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sagte er sogar zu seiner Frau: „Ich werde in diesem Jahr noch auf den Skiern stehen.“ Er spinnt, dachte sich Barbara Anwander. Es war der 14. Dezember, und es ging ihrem Mann alles andere als gut. Er war nur knapp dem Tod entronnen, hatte im Krankenhaus stark abgenommen und wog nur noch 65 Kilogramm.

Zwei Tage vor Silvester stand er dann tatsächlich zum ersten Mal wieder auf Skiern. Es ist sein Leben .

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