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Sport: Der Verrückte und die Schönheit des Spiels

Von Martín E. Hiller Ein Mann sitzt auf dem Podium und starrt auf einen unsichtbaren Punkt auf dem Tisch vor ihm.

Von Martín E. Hiller

Ein Mann sitzt auf dem Podium und starrt auf einen unsichtbaren Punkt auf dem Tisch vor ihm. Über die hohe Stirn fällt feuchtes Haar, die Hände liegen gefaltet im Schoß. Wenn er die Fragen des Auditoriums beantwortet, verfällt er - ohne den Blick zu heben - in minutenlange Monologe, erwärmt sich an seinen Theorien, versucht alle Zuhörer in die Tiefe seines Gedankenganges mitzunehmen. Man spürt, wie es lebhaft hinter seiner Stirn arbeitet, wie er fasziniert seinen eigenen Erklärungen lauscht. Manchmal beschränkt er sich aber auch auf ein lapidares „Nein“ oder „Ja, richtig“ - je nachdem, ob ihn das Thema interessiert oder nicht. Mit seinem abwesenden Gesichtsausdruck erinnert er an den Klaus Kinski der Siebzigerjahre. Marcelo Bielsa, der Trainer der argentinischen Fußballnationalmannschaft, gibt eine Pressekonferenz.

El Loco nennen sie ihn in Argentinien, den Verrückten, und er tut nichts, um diesen Spitzn loszuwerden. Als der argentinische Stürmer Martin Palermo bei der Copa America 1999 einmal drei Elfmeter in einem einzigen Spiel verschoss (das Spiel gegen Kolumbien endete 0:3), fing Bielsa dermaßen an zu toben, dass er schließlich des Stadions verwiesen wurde. Im Viertelfinale verlor Argentinien dann ausgerechnet gegen den Erzrivalen Brasilien. Das Scheitern in der Südamerikameisterschaft nach seinem ersten Jahr als Argentiniens Nationaltrainer sollte jedoch einer der wenigen Tiefpunkte in Bielsas bisheriger Karriere als Fußballlehrer bleiben. 1955 in Rosario in der argentinischen Provinz geboren, spielte El Loco kurze Zeit beim dortigen Erstligisten Newell’s Old Boys, wo 1990 auch seine Laufbahn als Fußballtrainer begann. Zwischen 1990 und 1992 holte er zwei argentinische Meisterschaften und führte Newell’s bis ins Finale der Copa Libertadores, dem südamerikanischen Pendant zur Champions League. Es folgten Engagements in Mexiko und Buenos Aires, wo Bielsa mit Velez Sarsfield einen weiteren Titel holte, bevor er 1998 bei Espanyol Barcelona unterschrieb. Gerade als er jedoch richtig anfangen wollte, mit seiner neuen Mannschaft zu arbeiten, rief der argentinische Fußballverband nach ihm.

Daniel Passarella war nach dem enttäuschenden Ausscheiden Argentiniens im Viertelfinale der Weltmeisterschaft in Frankreich 1998 als Trainer zurückgetreten, und Marcelo Bielsa sollte die Argentinier zu alter Größe zurückführen. Der Rechtsanwaltssohn dachte über das überraschende Angebot einen Tag lang nach. Dann ließ er sich von seinen Pflichten bei Barcelona entbinden, flog nach Buenos Aires, um den Vertrag zu unterschreiben. Er ließ sich die Zahlung seines Gehalts in US-Dollar garantieren - zu einer Zeit, da noch kein Mensch die Aufwertung der amerikanischen Währung gegenüber dem argentinischen Peso drei Jahre später auch nur ahnen konnte.

So akribisch, wie er seine Vertragsbedingungen aushandelt, macht er sich auch an seine Arbeit. Er wollte zuerst alle Spieler persönlich kennenlernen, um sich einen Eindruck vom Charakter der Mannschaft zu verschaffen. Was er sah, gefiel ihm. Auf die Frage, warum er nicht im gleichen Hotel wie die Mannschaft nächtige, antwortete er: „Weil ich darüber nachdenke, wie die Spieler gewinnen können, während sie schlafen.“ Es müssen ihm die richtigen Gedanken gekommen sein: Die Qualifikation zur Weltmeisterschaft 2002 wurde auf derart souveräne Weise bewältigt, dass Argentinien seither als Mitfavorit auf den Titelgewinn bei der WM gilt. Von 18 Ausscheidungsspielen verlor Argentinien nur eines. Bielsa erhielt 2001 den Titel „Welttrainer des Jahres“.

Die argentinische Nationalelf spielt unter Bielsa seit vier Jahren in fast unveränderter Formation zusammen. „Wir suchen den Erfolg in der Schönheit des Spiels. Sicher ist das Resultat das Wichtigste, aber was haben wir schon von einem Erfolg, wenn er nicht schön anzusehen war“, sagt der Fußballstratege. Bielsa ist ein Mann mit Visionen, fähig zu feinsinnigem Humor. Kurz vor Ende der Pressekonferenz fragt ein Reporter, wie es möglich sei, dass ein Mensch wie er sich in dieser Fußballwelt voll extrovertierter Stars und aufgeregtem Millionärsgehabe behaupten kann. „Weil ich ein Star bin“, antwortet Bielsa und lächelt sanft.

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