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Sport: Der Zaubertrank fließt nicht mehr

In der DDR war Osternienburg das „Hockeydorf“. Nun kämpft es mit den Mühen der Einheit, mehr Talente als früher zieht es in den Westen. Ein Besuch

Die Fließrichtung an diesem Morgen ist eindeutig. Die Autos verlassen das Dorf, als sei die Straße hinaus ein Versprechen. Nur Peter Roth steuert in die andere Richtung, er fährt nach Osternienburg hinein, am Hockeyplatz bremst er ab. „Hockey ist das Wichtigste, was wir hier haben“, sagt er und steigt aus dem Auto aus. Der Miniatur- Hockeyschläger am Rückspiegel schwingt noch einige Male nach.

Osternienburg, ein Dorf westlich von Dessau in Sachsen-Anhalt, Beiname: das Hockeydorf. Zu DDR-Zeiten errangen die Mannschaften von hier unter dem Namen BSG Traktor 156 Hockeymeistertitel, 41 Nationalspieler brachte das Dorf hervor, mitunter hatte der Verein mehr als 300 Mitglieder, und das bei 3000 Einwohnern. Viele Zahlen. Man könnte es auch kurz machen und von einem Wunder reden.

Nach der Wende hörte Peter Roth, Ex-Nationalspieler und heute Vorsitzender des Osternienburger Hockeyvereins, immer wieder die Asterix-Parallele – Osternienburg als Dorf von Unbeugsamen, das den Hockeyhochburgen Leipzig und Jena Widerstand leistet. Doch wurde das gallische Comicdorf zu keiner Zeit von einer Wende überrollt, die Zaubertrankproduktion niemals abgewickelt. Von den früheren vier Großbetrieben, darunter zwei LPGs, gibt es in Osternienburg dagegen heute keinen mehr, die Einwohnerzahl ist auf knapp 2100 geschrumpft, mehr als jeder Zehnte ist arbeitslos. Noch spielen die Männer in der ersten Hallen-Bundesliga und auf dem Feld in der Regionalliga. Doch das Hockeydorf ist in Gefahr. „Uns rennen die Leute weg“, sagt Roth. „Und um die Guten, die wir haben, richtig zu trainieren, fehlt uns das Geld.“

Peter Roth war einmal aktiver Teilhaber am Osternienburger Hockeywunder. 1965, er war gerade zehn Jahre alt, trat er dem Verein bei, von 1974 bis 1990 spielte er in der DDR-Nationalmannschaft. Für ihn hat das Osternienburger Hockeywunder vor allem einen Namen: „Ernst Messinger hat das alles möglich gemacht.“ Messinger selbst, inzwischen 76, die Baseballkappe wie ein amerikanischer Coach ins Gesicht gezogen, sagt: „Das Glück kommt nicht, wenn man nur geradeaus geht.“

Und wenn, dann hätte er so ein Glück wahrscheinlich fast aufdringlich gefunden, denn einer wie Messinger genießt den Kampf gegen Widrigkeiten. 1950 etablierte er, zum Unwillen der Fußballer, die erste Hockeymannschaft im Dorf, das Spielfeld legte er als gelernter Gärtner selbst an, traf 1960 dann eine grundlegende Entscheidung, die das Fundament des Erfolgs werden sollte. Damals fingen Kinder meist im Alter von zehn bis 14 Jahren mit dem Sport an, Messinger dagegen besuchte den Sportunterricht der ersten und zweiten Klassen und rekrutierte von dort die Talentiertesten. Zu ihrem ersten Spiel wären die Kinder dann fast nicht angetreten. „Herr Messinger, die sind ja viel größer als wir!“, riefen sie, als sie die gegnerische Schülermannschaft sahen. „Dann krabbelt ihnen durch die Beine“, erwiderte Messinger ungerührt. Im Training stellte er das Spiel mit Schachfiguren nach, „du rechts außen bist das Pferd“, und wenn die Kinder stöhnten, sagte er: „Hockey müsst ihr mit dem Kopf spielen. Wer gut sein will, muss einen Zug voraus denken, wer Nationalspieler werden will, am besten drei.“

Doch für den internationalen Erfolg waren die Jungen leider ein paar Jahre zu spät geboren. 1968 strich die DDR Hockey von der Liste der förderungswürdigen Sportarten, das Spiel war nicht medaillenträchtig genug. Und gerade zu dieser Zeit begann sich Messingers Nachwuchsarbeit auszuzahlen: Zwischen 1968 und 1990 holten die Osternienburger mehr als die Hälfte aller DDR- Meistertitel. Zu den großen Turnieren ins westliche Ausland durften sie nach dem DDR-Beschluss jedoch nicht mehr fahren. Mit einer Ausnahme: 1985 reisten die Osternienburger – unter ihnen die Nationalspieler Peter Roth, Lothar Berger und Gerhard Zein – zum Freundschaftsspiel nach Bonn. Roth erinnert sich noch, wie der Speerwerfer Wolfgang Hanisch, als Aufpasser mitgeschickt, die Spieler ermahnte: „Steigt ja alle wieder in den Bus zurück, es ist mein Leben, das ihr sonst kaputt macht.“ Tatsächlich blieb keiner im Westen – auch wenn der Busfahrer auf der Heimreise absichtlich eine Ausfahrt verpasste. Zumindest einmal im Leben wollten die Osternienburger den Kölner Dom sehen. Das Spiel selbst war unspektakulär, die Osternienburger waren den Bonnern weit überlegen, als Abschiedsgeschenk bekamen sie 20 Hallenhockeybälle, in der DDR Mangelware.

Nach der Wende hielt sich der Kontakt zu den Bonnern. „Ich habe da über drei Ecken gehört, dass ihr eine Bande sucht. Hier steht eine gebrauchte ungenutzt“, schrieb Kay Milner vom Bonner Hockeyverein im Jahr 1991. Die Bande reiste in die eine Richtung, der Ex-Nationalspieler Lothar Berger in die andere – Milner holte ihn als Trainer ins Rheinland. Viele der ehemaligen Nationalspieler sind inzwischen im Westen, der Mittelstürmer sowie der rechte Außenverteidiger etwa haben Arbeit in Hagen gefunden. Auch sonst ist nicht mehr viel übrig von Osternienburg. Der große Betrieb Technische Gase ist geschlossen, die früheren Arbeiterwohnheime werden derzeit abgerissen, an ihrer Stelle soll ein Seniorenwohnheim entstehen. Auch die Sekundarschule, mit der die Hockeytrainer eng zusammenarbeiteten, hat dichtgemacht, ihr Gebäude beherbergt nun eine Fahrschule. Die braucht es auch: Ende 2007 wurde die Zugverbindung in den Nachbarort Aken stillgelegt. Zum Rätsel des bisherigen Hockeywunders kommt nun also noch ein zweites: Wird es sich auch in Zukunft halten können?

Früher, als sich die Osternienburger Mannschaftsaufstellungen noch wie Stammbäume lasen, Nationalspieler wie Gerhard Zein und Detlef Bahn ihre Kinder auf das Hockeyfeld schickten, gab es Arbeit für jeden, dazu Freistellungen für gute Spieler und als Trägerverein eine LPG, dessen Vorsitzender selbst Kinder hatte, die Hockey spielten. Heute dünnen sich die Verästelungen dieser Familien langsam aus. Der Verein, der heute OHC Schwarz-Weiß heißt, hat nur noch 190 Mitglieder. Für die Hartz-IVEmpfänger wurde gerade ein ermäßigter Mitgliedsbeitrag von 60 Euro eingeführt. Im Hamburger Club an der Alster dagegen kostet die Mitgliedschaft 850 Euro im Jahr, dazu kommt eine Aufnahmegebühr von 4000 Euro.

Diese Vergleiche mit dem Westen, überhaupt die neuen Verhältnisse zehren an Substanz und Überzeugungen des Vereins. Bislang war es üblich, dass Trainer ehrenamtlich arbeiteten, eine Entlohnung wurde erst im vergangenen Jahr eingeführt. Ein harter Kampf sei das gewesen, sagt Roth, auch ideell. „In der DDR waren wir es gewöhnt, dass man alles für nothing macht.“ Im Kapitalismus dagegen kostet alles Geld, aber schöpfen müssen die Osternienburger immer noch aus dem Leeren.

Dienstagabend, Leitungssitzung. An der Wand des Vereinszimmers hängen die DDR-Meister-Wimpel, vor Peter Roth und seinen Kollegen liegt eine Liste mit allen Mitgliedern. Auf dem Vereinsgelände stehen Renovierungsarbeiten an, deshalb soll jeder zu einer Spende aufgerufen werden. „Etwa auch die Kinder?“, fragt eine Frau entsetzt. Natürlich nicht, murmeln die anderen, wohl ist ihnen nicht. Dann spricht der Damentrainer vor. Er habe eine neue Spielerin, talentiert, aber von außerhalb, dazu ohne Arbeit. Ob man ihr die Fahrtkosten erstatten könne? Der Geschäftsführer schaut sorgenvoll. Die Frage ist noch nicht entschieden, da berichtet ein Spieler der zweiten Herrenmannschaft von dem Vorbereitungsspiel in Wien, bei dem sie gerade waren. Ihr Ziel: Der Aufstieg in die Zweite Liga, ein teures Unterfangen mit all den Reisen, die da anfallen. In Wien haben die Osternienburger gewonnen, das Preisgeld betrug 500 Euro, die Tafel mit der Gewinnsumme lehnt an der Wand. „Kosten gesenkt“, sagt der Geschäftsführer und nickt befriedigt.

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