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Derbysieger Union: Halt dich fest. Und diesen Moment.

Sie kommen noch mit selbstgestrickten Schals und feiern in Nachbars Stadion, als wären sie daheim: Wie der 1. FC Union seinen kaum fassbaren Sieg erlebte.

Auf dem Weg zum Olympiastadion: Vater und Sohn, beide mit rot-weißen Schals, sitzen sich gegenüber, schauen aus dem S-Bahn-Fenster. Nach drei Stationen bricht der Vater das Schweigen: „Na, biste aufgeregt?“ Der Junge nickt. „Mach dir keine Sorgen“, beruhigt ihn Papa. „Wir kriegen heute einfach nur ’ne Klatsche.“

Draußen schleichen die Bahnsteige vorbei mit den Trauben von blau-weiß und rot-weiß gekleideten Menschen, manche sind trotz unterschiedlicher Farben miteinander befreundet. Sie klopfen sich auf die Schultern ihrer mit Hertha-Aufnähern oder Union-Stickern geschmückten Kutten, werfen sich lachend ihre gegenläufigen Tipps zu und trennen sich dann am Stadionrund. Die Unioner aus dem Osten, manche noch mit ihren einst selbst gestrickten Schals, finden Platz in der Westkurve am zugigen Marathontor, die anderen gehen dahin, wo sie immer stehen. „Macht’s jut.“ Berlin ist nur noch für 90 Minuten geteilt.

Für Hertha läuft es gleich schlecht. Die Choreografie im Fanblock muss wegen einer Sturmwarnung abgesagt werden, während die Gäste aus der gleichen Stadt wie selbstverständlich die Stadionterrassen entern. „Eisern!“, rufen sie von oben. „Union!“, antworten sie von unten. Und sie staunen, wie viele sie sind – hier in Nachbars Garten. Schon das macht die Rot-Weißen stolz. Zwei Kumpels fotografieren sich gerade vor dem Olympiastadion, als bei einem das Handy klingelt – er drückt den Anruf weg. „Meine Mutter“, er rollt die Augen. „Ich hab jetzt keine Zeit.“ Nicht nur für ihn ist das zweite Berliner Derby das Spiel des Jahres, mindestens. Auch für den Stadionsprecher von der Alten Försterei, der durch die weiten Katakomben der Charlottenburger Betonschüssel huscht. „Wir siegen 3:0“, ruft er und lacht über den Witz.

Wenn schon verlieren beim großen Favoriten, dann wenigstens lustig. Die älteren Union-Fans kennen dieses Gefühl.

In der DDR-Oberliga sahen sich die „Schlosserjungs“ vom Kombinat in Schöneweide stets benachteiligt gegenüber ihrem liebsten Feind, dem BFC Dynamo von Stasi-Chef Erich Mielke. Wenn es zu den großen Ost-Berliner Derbys ging ins Stadion der Weltjugend (das sie verächtlich „Zickenwiese“ nannten, weil es zuvor nach Walter Ulbricht benannt war), ging es schon mal mit einer 0:8-Klatsche nach Hause. Aber stolzen Hauptes.

Im Olympiastadion, gegen die anfangs auch auf den Rängen übermächtige Hertha, fällt früh das Tor für den Favoriten. Ein blaues Meer aus Schals wogt über die Tribünen, doch Unions Fans singen einfach weiter, als sei nichts gewesen: „Hier regiert der FCU!“ Als danach Herthas Spieler sich und den eigenen Anhang einschläfern, werden sie mutiger, oben wie unten – bis zu jenem Samstagsschuss, der als Ausgleich ins Netz fetzt und die Tribüne am Marathontor in einen Taumel reißt, eingetaucht in rote bengalische Feuer. „Janz Union is eene Wolke“, ruft da einer, während der selbst ernannte Hauptstadtklub sein Unglück nicht recht zu fassen bekommt. „Erst machen sie das Tor, dann zünden die noch Bengalos“, empört sich eine ältere Frau in der Vip-Loge und stößt ihren Mann an. Er schüttelt den Kopf: „Die machen uns alles kaputt.“ In der Halbzeitpause gibt es sogar im holzgetäfelten Vip-Bereich einige „Eisern“- Rufe. Ein Mann mit einem blauen Jackett dreht sich angewidert um, schweigt aber eisern. „Na, bei euch is ja nich viel los“, ruft der Unioner ihm hinterher und ordert erst mal Essen und Bier.

74 244 Menschen, 22 Spieler, ein Ball. Eine größere Bühne gibt es nicht, auf der man zeigen kann, dass Berlin mehr verträgt als Zweite Liga. Als der Ball erneut ins Netz der Herthaner segelt, klingt der ungläubige Jubel aus dem Westen wie ein entsetzter Schrei. Die Ostkurve dagegen fällt ins Koma, zehn Minuten, zwanzig, von der blau-weißen Wand bröckelt der Putz. „Wir waren in Schockstarre“, erzählt ein Hertha-Fan irgendwann nach dem Aufwachen, angekommen in einem Später, in dem die eingeplanten Punkte verbucht sind und die Union-Fans ihr Team feiern wie nach einem Heimsieg. „Nur nach Hause geh’n wir nicht“, singen die Älteren frei nach Hertha. Die Jüngeren zücken wieder ihre Handys, schreien hinein: „Ich war dabei! Halt dich fest! Ich war dabei!“ In den Katakomben irrt Unions Stadionsprecher umher mit Tränen in den Augen. 3:0? Von wegen, aber „so etwas habe ich noch nicht erlebt“.

Vor kurzem waren sie noch in der Oberliga, da haben sich die Spieler teilweise in Festzelten umgezogen. Jetzt sind sie bei den Profis dabei und in diesem Augenblick gar das beste Team der ganzen Stadt. „Der liebe Gott hat uns belohnt“, sagt Mittelfeldmann Paul Thomik. Gibt es noch superere Superlative?

Lange nach dem Abpfiff haben sie in der Union-Kurve ihre roten Mützen umgedreht: Auf der Rückseite sind sie weiß und tragen einen Berliner Bären. Als die Helden kommen, wird ein Megafon aus dem Oberrang heruntergeworfen. „Derbysieger, Derbysieger, hey, hey“, intoniert Dominic Peitz improvisiert. Und Torsten Mattuschka erinnert die Fans an alte Zeiten: „Scheiß Dynamo.“ Am Freitag schon steht das Derby der zerrissenen Herzen an: Unions zweite Mannschaft spielt gegen den BFC Dynamo.

Halt dich fest, und ihn auch, diesen einen unverhofften Moment, wie ihn so wohl nur der Fußball bringen kann. Es ist das Spiel, von dem sie sich erzählen werden, wieder und wieder, wie sie es schon in der folgenden Nacht tun in den rot-weißen Kneipen von Köpenick und Schöneweide, während die Spieler tief im Westen der Stadt die Clubs entern.

Auf dem Weg nach Hause: Zwei Jungs kleben „Union“-Sticker an S-Bahn-Fenster. Dann rufen sie ihre Kumpels an: „Wir brauchen Nachschub, die reichen nicht für so einen Tag.“ Mit einer Klatsche für Hertha hatten auch sie nicht gerechnet.

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