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Löw

© dpa

Deutsche Elf: Das Ende der Eisenfüße

Joachim Löw will den deutschen Spielern die teutonischen Tugenden im Zweikampf austreiben. Fouls würden sein Spiel nur unterbinden.

Der Quartierwechsel von Mallorca nach Ascona im Tessin scheint der deutschen Mannschaft bekommen zu sein. Die gestrige Vormittagseinheit verlief ganz nach dem Geschmack des Bundestrainers. Joachim Löw sah, wie seine Spieler meist einen Tick schneller waren als ihre Gegner, was zur Folge hatte, dass alle Zweikämpfe gewonnen wurden. Der Fairness halber sollte erwähnt werden, dass der Gegner ein ausgesuchter war. Löw hatte über das Feld verteilt rote und gelbe Fußballer-Dummies aus Metall in den Rasen rammen lassen. Die wirklichen Gegner werden sich im Zweikampf vermutlich nicht so einfach narren lassen.

Jochim Löw möchte nichts dem Zufall überlassen in Vorbereitung auf das Auftaktspiel der Deutschen bei der EM am Sonntag gegen Polen. Eines der zentralen Themen ist das Zweikampfverhalten, das der Bundestrainer unbedingt verbessert sehen möchte. Aus diesem Grund nahmen die deutschen Fußballer Anleihen beim Basketball – nicht zum Ausgleich, sondern um zu lernen und das eigene Spiel zu bereichern. Eigens dafür hatte man den ehemaligen Basketballnationalspieler Denis Wucherer einfliegen lassen. „An diesem Sport hat mir immer imponiert, wie unglaublich nah man am Gegner ist, ohne permanent den Körperkontakt zu suchen“, hat Löw erzählt. „Wir können davon etwas lernen, wir versuchen, etwas zu übernehmen.“ Tatsächlich hatte Löw seine Spieler mehrere Basketballeinheiten absolvieren lassen, jeweils stattliche 75 Minuten lang. Dabei ging es nicht um hübsche Korbleger, sondern um „profane Dinge wie Beinarbeit, Koordination und Distanzgefühl zum Gegner“, wie Torwart René Adler erzählte. Hintergrund für Löws ungewöhnlichen Ansatz ist eine der größten Baustellen im deutschen Fußball. Seit er für die Nationalelf verantwortlich ist, wird er nicht müde, auf „das mangelhafte Zweikampfverhalten“ in der Bundesliga hinzuweisen. „Es gibt zu viele Fouls“, sagt Löw und macht dabei ein Gesicht, als sei ihm jemand von hinten in die Beine gefahren. Dann wird er laut: „Fouls stoppen Pressing.“

Dem Bundestrainer schwebt eine andere Spielform vor. Dabei geht es darum, dass die Mannschaft, die nicht im Ballbesitz ist, schnell, kompakt und taktisch klug gegen den Ball arbeitet, so dass der Gegner möglichst unter Druck gerät. „Stressaufbau beim Gegner“, nennt es Löw. Fouls würden nur das Spiel unterbinden, nicht aber dazu dienen, den Ball zu gewinnen, um das eigene Spiel strategisch in einen Vorteil umzukehren – also in Windeseile einen Gegenangriff zu initiieren. Genau in jenen Momenten, in denen sich der Gegner im Angriff befindet und den Ball verliert, ist er defensiv nicht sofort optimal sortiert. Diese Momente der Unordnung beim Gegner gelte es zu nutzen. Daraus könne ein entscheidender Vorteil für das Team entstehen, das gerade den Ball gewonnen hat. Daher gehe es um geschicktes Zweikampfverhalten.

Als gutes Beispiel darf Per Mertesacker genannt werden. Der lange Bremer Innenverteidiger hat laut einer Erhebung für das Länderspieljahr 2007 in der Nationalelf nur alle 450 Minuten ein Foulspiel begangen, trotzdem aber fast alle Zweikämpfe gewonnen. Auf die Frage, wie man Fußball spiele ohne zu foulen, hat er eine simple Erklärung: „Gucken, gut stehen und im richtigen Moment angreifen.“ Wichtig sei, dass beispielsweise ein Verteidiger möglich nicht in eine brenzlige Situation komme, also allein gegen einen Stürmer stehe. „Das ist die Situation, vor der du am meisten Respekt hast, wenn ein Stürmer mit Tempo auf dich zuläuft und du hast nur dich selber, du weißt, es ist keiner mehr da, dich kann keiner mehr absichern. So wirst du gezwungen, das Risiko eines Foulspiels einzugehen“, erzählt Mertesacker. Ganz ausschließen könne man solche Momente nicht, in denen man foul spielen müsse, weil es sonst brenzlig würde. Dann gehe es aber darum, „dumme Fouls zu vermeiden“.

Dumme Fouls sind unnötig, sagt Löw, der immer wieder Spieler sieht, die „völlig unkoordiniert“ in den Gegner rennen. Wenn man dem Bundestrainer zuhört, könnte man meinen, sein Abwehr- und Zweikampfplan basiere auf reiner Gewaltlosigkeit. Das stimme so nicht, versichert Mertesacker und landet bei der Grätsche. Die Grätsche gilt als eine Erfindung guter alter deutscher Abwehrkunst. Die Grätsche aber sei nicht zwangsläufig ein dummes Foul. Mertesacker sagt, dass auch er gelegentlich zu diesem verpönten Mittel greife – „und zwar ganz bewusst“. Wenn er sich sicher ist, die Situation klären zu können. „Ich muss den Ball auch wirklich bekommen.“ Denn was passiert bei einer sauberen Grätsche? Man liegt in aller Regel lang. „Bis man aufgestanden ist, vergeht wertvolle Zeit. Zeit, die den Gegner in Vorteil bringt“, sagt der Defensivspezialist. Sollte auch der Gegner zu Boden gehen, gibt es oft Freistoß, was wiederum ein Nachteil wäre. Aus Standards fallen heute immer mehr Tore.

Joachim Löw drückt es drastischer aus. „Wir müssen weg von den teutonischen Tugenden der Eisenfüße, wo es galt, Ball und Gegner zu treffen. Fußball ist ein Kampfspiel, aber kein Kampfsport.“ Weil sich dieser Satz mantragleich über das Tun der deutschen Kicker legen soll, wiederholt Löw ihn noch einmal: „Judo und Karate sind Kampfsport. Fußball nicht!“

Wie aber sehen Lösungen aus? Das Spiel der Deutschen wird immer undeutscher werden müssen. Das bedeute nicht, dass es nicht mehr um die Primärtugenden Kraft, Ausdauer und Zweikampfhärte ginge. Diese Tugenden müsse man selbstverständlich aufbringen, sagt Mertesacker, sonst ist man heute chancenlos. „Wir wollen flüssig, klar und deutlich nach vorn spielen, so dass man einen Kombinationsfußball auch erkennen kann. Dafür brauche ich Laufbereitschaft, Zweikämpfstärke und Einsatzwillen als Basis.“ Es gehe aber vorrangig darum, dem Gegner den Ball abzulaufen oder ihn unter Druck zu setzen, ohne groß Gegnerkontakt zu haben. Intelligentes Zweikampfverhalten fange im Kopf an: Wann ist ein Gegenspieler frontal oder von der Seite anzugreifen, wann ist er zu doppeln? „Das schönste Gefühl eines Verteidigers ist, wenn er einen Stürmer ohne Foulspiel stoppen kann und als Zweikampfgewinner dasteht“, hat Mertesacker einmal gesagt. Das sei, als schieße man selbst ein Tor.

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