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Mit Pokal, aber ohne Binde. Fritz Walter nach dem Wunder von Bern. Foto: dpa

© picture-alliance/ dpa

Deutsche Kapitäne: Eins plus eins ist drei

Das Wort deutscher Kapitäne hatte früher Gewicht. Ein Rückblick von Artur Hiller bis Oliver Kahn.

Fritz Walter hat sich nie für die Kapitänsbinde interessiert, Uwe Seeler war sie ziemlich egal, und auch vom allmächtigen Sepp Herberger ist kein Zitat überliefert betreffend jenes Textils, das in diesen Tagen die Nation bewegt. Früher war vielleicht nicht alles schöner, aber einfacher. Und über eine Kapitänsbinde konnte man sich schon mal deswegen nicht streiten, weil es bis in die siebziger Jahre hinein gar keine gab. Franz Beckenbauer war der erste deutsche Kapitän, der mit dem heute so prestigeträchtigen Armreif auflief. Das war 1972, pünktlich zur Europameisterschaft in Belgien.

Der erste deutsche Kapitän überhaupt hieß Artur Hiller und nannte sich noch Spielkaiser, Zeugnis des verkrampften Versuchs, deutsche Begriffe für den von englischem Vokabular geprägten Fußball zu finden. Dieser Arthur Hiller aus Pforzheim war qua Definition der einflussreichste Kapitän der Länderspielgeschichte, denn er durfte ganz allein und offiziell die Taktik der Mannschaft bestimmen. (Das taten später auch Beckenbauer, Paul Breitner oder Lothar Matthäus, aber eben nicht von Amts wegen.) Trotz Hillers ausgeklügelter Taktik verloren die Deutschen am 5. April 1908 in Basel 3:5 gegen die Schweiz.

Der berühmteste Kapitän der Zwischenkriegsjahre war Fritz Szepan. Ein begnadeter Stratege, über den sie heute bei seinem Klub FC Schalke 04 nicht mehr besonders viel und gern sprechen. Szepan hatte 1938 ein jüdisches Kaufhaus am Schalker Markt für einen Spottpreis übernommen. Arisierung nannte man so etwas in diesen dunklen Tagen.

Auch Fritz Walter machte seine ersten Länderspiele noch unter dem Hakenkreuz, er überlebte mit einigem Glück den Krieg und wurde 1954 in Bern so etwas wie ein später Gründungsvater der Bundesrepublik. Der Kaiserslauterer interpretierte die Rolle des Anführers mit einer Bescheidenheit, die schwer zu unterbieten ist. Als er sich 1954 in Bern nach dem Sieg über Ungarn still und leise den WM-Pokal abholte, fragte Walter seine Kollegen (die man damals noch Kameraden nannte): „Alles klar?“ Und die Mannschaft antwortete: „Alles klar, Fritz.“ Noch im höheren Alter war er vor jedem Spiel so aufgeregt, dass er sich auf dem Mannschaftsklo übergeben musste. Was seinen Führungsanspruch betrifft, war Walter ein Anti-Ballack. Ohne Murren akzeptierte der Oberheld von Bern, dass nach seinem überraschenden Comeback bei der WM 1958 in Schweden nicht er, sondern Hans Schäfer der Mannschaft als Kapitän vorstand.

Als Schäfer nach der WM 1962 in Chile aus der Nationalmannschaft zurücktrat, übernahm Uwe Seeler das Kapitänsamt und sammelte in der ganzen Welt Sympathiepunkte mit jenem berühmten Foto, das ihn nach dem Wembleyfinale 1966 zeigt: ein deutscher Anführer, der mit hängendem Kopf den Platz verlässt, flankiert vom deutschen Kotrainer Helmut Schön und einem englischen Bobby.

Wie Walter gab auch Seeler nach seinem Rücktritt noch einmal ein Comeback als Mittdreißiger, aber anders als sein Vorgänger beanspruchte er 1970 in Mexiko die Führungsrolle. Erst danach durfte Franz Beckenbauer übernehmen. Der profilierte sich vor der Heim-WM 1974 als eiskalter Verhandlungsführer im Prämienpoker und als Mann, der im Zweifelsfall immer recht hat. „Wenn der Franz gesagt hat: Eins plus eins ist drei, dann war das eben so“, hat der Frankfurter Bernd Hölzenbein später erzählt. Außerdem durfte er als einziger westdeutscher Kapitän einem ostdeutschen die Hand schütteln. Vor dem Hamburger 0:1 im Vorrundenspiel gegen die DDR tauschte Beckenbauer mit dem Hallenser Bernd Bransch den Wimpel.

Auf den Kapitän Beckenbauer in der Nationalelf folgte später wie auf der Trainerbank Berti Vogts, und auch in dieser Funktion sind vom fleißigen Gladbacher vor allem zwei eher nachteilige Anekdoten in Erinnerung. Beide spielen sie 1978 bei der WM in Argentinien, die wegen der folternden Militärdiktatur nicht besonders populär war in aufgeklärten Kreisen. Der deutsche Kapitän Vogts aber beschied allen Nörglern nach der Ankunft, Argentinien sei „ein Land, in dem Ordnung herrscht“. Und: „Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“ Vogts beendete in Südamerika seine internationale Karriere, standesgemäß mit einem Eigentor beim 2:3 gegen Österreich.

Noch zwei Episoden, die von deutschen Kapitänen und Argentinien handeln: Karl-Heinz Rummenigge verzog 1986 nach der Niederlage im WM-Finale gegen Maradonas Team demonstrativ das Gesicht, als sich Helmut Kohl neben ihm aufs Foto drängte. Und unter Lothar Matthäus wurden die Deutschen 1990 in Rom zwar zum dritten Mal Weltmeister. Der abergläubige Kapitän aber traute sich nicht, den siegbringenden Elfmeter zu schießen, weil er in der Halbzeitpause neue Schuhe angezogen hatte.

Sechs Jahre später musste Matthäus verletzt zuschauen, wie in Wembley sein Erzfeind Jürgen Klinsmann vor dem siegreichen EM-Finale gegen Tschechien die Nationalspieler der Queen vorstellte. Klinsmann war es auch, der als Bundestrainer vor der WM 2006 den Kapitän Oliver Kahn absägte und den Capitano Michael Ballack erfand. Offiziell präsidiert Ballack bis heute. Auch wenn er am Freitag in Brüssel nicht die Binde tragen wird.

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