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Deutsche Leichtathletik: Die Breite in der Spitze

Die Chance, dass nach zwölf Jahren wieder ein deutscher Leichtathlet Olympiasieger wird, ist bemerkenswert groß.

Berlin - Thomas Kurschilgen saß zufrieden hinter dem Mikrofon. „Mit Blick auf die Olympischen Spielen 2012 in London haben wir unsere Standortbestimmung hervorragend bewältigt“, sagte der Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) in der Abschluss-Pressekonferenz bei der WM 2011 in Daegu. Drei Weltmeister (David Storl/Kugel, Robert Harting/Diskus, Matthias de Zordo/Speer), drei Mal Silber, ein Mal Bronze, eine sehr gute Bilanz.

Und damit sind auch die Chancen groß, dass es in London zumindest eine Goldmedaille für die deutschen Leichtathleten in der Kernsportart der Olympischen Spiele geben wird. Zeit wär’s. Denn die letzten deutschen Olympiasieger gab es bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney: Weitspringerin Heike Drechsler wurde zum zweiten Mal Olympiasiegerin, Nils Schumann gewann sensationell über 800 Meter. Danach: eine Durststrecke. 2004, Athen: zweimal Silber (Steffi Nerius/Speer), Nadine Kleinert (Kugel). 2008, Peking: einmal Bronze (Christina Obergföll/Speer), eine nachgerade katastrophale Ausbeute.

Das war bitter, aber die deutsche Leichtathletik war auch danach nicht am Boden. Dass der DLV aber jetzt gute Chancen auf einen Olympiasieg besitzt, liegt an der großen Zahl der Medaillenkandidaten. Neben den Weltmeistern von Daegu gehören dazu auch die WM-Zweiten Nadine Müller (Diskus), Betty Heidler (Hammer) und Martina Strutz (Stabhochsprung). Und dann steigt ja auch die lange verletzte Hochspringerin Ariane Friedrich in die Olympiasaison ein.

Aber auch in dieser Gruppe gibt es Abstufungen. Die größten Chancen – auf dem Papier –, Gold in London zu gewinnen, haben Robert Harting und Betty Heidler. Beide sind routiniert, wettkampferfahren, stresserprobt. Heidler war schon 2007 Weltmeisterin, sie hatte vor der WM 2011 Weltrekord geworfen. Die 28-Jährige ist mental viel stärker geworden, seit sie sich nicht mehr von PR-Terminen vereinnahmen lässt. Und Harting gewann in Daegu, obwohl er wegen seines schmerzenden Knies nur nach einer Betäubungsspritze hatte werfen können. Wenn er verletzungsfrei antritt, hat er noch Reserven. Sein Ziel sind ja unverändert die 70 Meter.

Die größten WM-Überraschungen waren zwar der 21-jährige Storl, der jüngste Kugelstoß-Weltmeister aller Zeiten, und de Zordo. Aber zu klassischen Favoriten in London macht sie das nicht. Storl ist ein Jahrhunderttalent, ungemein schnell, mit guter Technik. Er hat so schnell den Sprung von der Jugend zu den Erwachsenen geschafft wie kein anderer Weltklassestoßer. Aber seine 21,78 Meter, seine WM-Siegweite, waren ein einsames Highlight, Wochen zuvor erst hatte er erstmals über 21 Meter gestoßen.

Jetzt nehmen ihn die Gegner viel mehr ernst als früher, die Frage ist auch, wie er es psychisch verkraftet, dass es nicht mehr in Riesenschritten nach oben geht und er zugleich in der Rolle des Gejagten auftritt. Storl hatte bis zur WM ein fast kindliches Gemüt, er nahm alles gar nicht so ernst. Wenn er sich schnell in seiner neuen Rolle findet, dann ist er in London freilich für eine Top-Weite gut.

Matthias de Zordo ist ebenfalls ein besonderer Athlet. Der Ex-Handballer besitzt einen der schnellsten Armzüge aller Speerwerfer, er nimmt ebenfalls alles locker, betrachtet gesunde Ernährung als unverbindliche Empfehlung, Krafttraining als lästiges Übel und genießt einfach die Situation. In Daegu profitierte er auch davon, dass seine Gegner unerwartet schwach geworfen haben.

Aber sein Trainer Boris Henry, früher selbst 90-Meter-Werfer, trimmt ihn schon auf Linie. Wenn de Zordo das Krafttraining ernster nimmt und an seiner Technik arbeitet, hat er noch enorme Reserven. Die könnte er in London ausspielen.

Noch unerwarteter als Storl ist Martina Strutz in die Weltspitze vorgestoßen. Zehn Kilogramm speckte die Stabhochspringerin ab, sie baute stattdessen Muskeln auf, wechselte den Trainer; den Erfolg sah man in Daegu. Und so wie sie jetzt arbeitet, wird es ein nachhaltiger Erfolg sein. Auch Nadine Müller hat sich stabilisiert. Ihre Nervenschwäche hat die Diskuswerferin verringert, das könnte sich auch in London auszahlen. Dann gibt es noch die WM-Dritte Jennifer Oeser (Siebenkampf) und Christina Obergföll (Speer). Auch Athleten, die immer für Spitzenresultate gut sind.

Natürlich wird es Favoriten geben, die straucheln, die gibt’s immer. Aber die Deutschen haben in London – vorausgesetzt, die Stars bleiben verletzungsfrei – eine relativ große Gruppe von Medaillenkandidaten. Die Chance, dass einer ganz oben steht, ist gut. Ein Trost hat der DLV auf jeden Fall: Verglichen mit Peking kann es in London nur aufwärts gehen.

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