zum Hauptinhalt
Die Autoren folgten der Einladung in ein Stadtviertel, das seit zwei Monaten von der Armee besetzt ist.

© dpa

Deutsche Schriftsteller als Fußballer: Ein Match im wohl gefährlichsten Stadtviertel Brasiliens

Deutsche und brasilianische Schriftsteller haben sich zusammengetan - für ein Fußballspiel in der Maré, der größten und gefährlichsten Favela von Rio de Janeiro. Das Match soll die Lage entspannen. Eine Reportage.

Alemao bedeutet: Der Deutsche.

Alemao bedeutet: Der Fremde.

Alemao bedeutet: Der Feind.

Am Mittag, in einem Restaurant an der Copacabana, sitzt noch die Angst mit am Tisch. Angst vor dem Unbekannten. Angst vor den Bildern, die man schon zu kennen meint. Angst, vielleicht auch das, vor der Angst selbst.

Niemand aus dem Süden Rios würde je freiwillig in den Norden fahren, sagt ein brasilianischer Journalist. Das ist, sagt ein anderer, keine Zuckerpuppen-Favela. Er würde da keinen Fuß reinsetzen.

Genau das aber möchten die Deutschen an diesem Tisch: Füße in die Favela setzen. Viele Füße. Füße in Fußballschuhen. Sie werden dort bereits erwartet.

Eine Woche vor Beginn der WM ist die deutsche Autorennationalmannschaft auf Einladung des Goethe-Instituts nach Sao Paulo gereist, um hier gegen eine Auswahl brasilianischer Schriftsteller anzutreten. Nun soll, hier in Rio de Janeiro, aber zuvor noch ein ganz anderes Spiel ausgetragen werden. Deutsche und Brasilianer gemeinsam gegen eine Auswahl aus Bewohnern des Complexo da Maré und Mitgliedern der UPP, der Befriedungspolizei, die sich dort noch immer nicht gezeigt hat.

Es ist eine Einladung in ein Stadtviertel, das seit zwei Monaten von der Armee besetzt ist. In ein Stadtviertel, das einige Journalisten nicht ohne schusssichere Westen betreten. Denn Schüsse, die fallen noch immer.

Das kann man sich, hier an der Copacabana, kaum vorstellen. Die Gewalt, nur wenige Kilometer entfernt.

Rio aber, das ist eben auch die Stadt der Gegensätze. Nord und Süd. Arm und Reich. Am Morgen noch ging der Blick von der Plattform der Christus-Statue über die Stadt, die Wolken ein Teppich zwischen den Hügeln. Cidade Maravilhosa. Ihr habt Rio von oben gesehen, sagt der Brasilianer am Tisch, nun seht ihr das echte Rio. Von ganz unten.

Dann steigt auch er in den Bus. Füße in Fußballschuhen.

Die Maré: 140 000 Menschen auf nur 10 Quadratkilometern

Der Complexo da Maré ist die größte Favela Rios. Vielleicht ist sie auch die gefährlichste, härteste, kaputteste. Sicher kann man da nicht sein. Der Schrecken ist ein Titel, der jede Woche neu vergeben wird. Die Maré, 140 000 Menschen auf nur 10 Quadratkilometern, gezwängt zwischen die Avenida Brasil und die Linha Vermelha, Hauptverkehrsstraßen. Der Weg zum Flughafen, die Hauptschlagader für den Tourismus, führt an jenen improvisierten Häusern vorbei, die als Rückzugsort für die Drogenhändler, die Traficantes, gelten. Das Böse, das Chaos. Zu nah. Zu sichtbar.

Anfang April kamen deshalb die Panzer, kam die Armee. 2700 Soldaten. Der Complexo da Maré ist eine horizontale Favela, sie ist leichter zugänglich als jene, die an den Hügeln kleben. Sie eignete sich gut für eine Demonstration der staatlichen Stärke.

Die Regierung nennt es Befriedung. Die Menschen in der Maré nennen es: Besatzung.

Rio, das hat der Komponist Tom Jobim gesagt, ist nichts für Anfänger. Der Complexo da Maré ist Rio für Fortgeschrittene. Wenn ein Bus voll Amateure von der Avenida Brasil in eine der Seitenstraßen biegt, ist es ganz gut, jemanden zu haben, der die Regeln kennt.

Julio lebt in Rio, seit er denken kann. Er hat sich das hier ausgedacht. Dieses Spiel. Er, die Haare weiß, die Augen schmal, ist Torwart, Autor, Journalist. Er hat dem Spiel auch seinen Namen gegeben, seinen Sinn: „Aqui ninguem e alemao“

Niemand hier ist ein Fremder.

Niemand hier ist ein Feind.

Niemand hier ist Deutscher.

Julio möchte zeigen, dass die Favela mehr ist als die Drogen, das Chaos, die Gewalt. Er sagt aber auch: „Für die Menschen hier ist es, als lebten sie in einer Militärdiktatur.“

Deshalb hatte er die Idee: Polizisten und die Jungs aus dem Viertel gemeinsam in einem Trikot. Annäherung für zweimal 30 Minuten.

Die Deutschen betreten diesen Platz mit unsicheren Schritten. In den Maschen des Zaunes die Kinderblicke.

Auf einem Platz, umringt von den Häusern aus nacktem Ziegel, den Wäscheleinen und Antennen. Wie Tribünen, die tatsächlich nicht mehr fertig werden. Leben im Rohbau. Ein Platz, der dort liegt, das Grün verblichen, wie der Filz eines Billardtisches, zerschlissen vom zerbrochenen Glas der Jahrzehnte. Es ist der einzige Fußballplatz in der Nähe. Die Favela ist jung. Die Favela, das ist die Stadt der Kinder. Sie tollen über die Wellen aus künstlichem Rasen, dazwischen ein Hund.

Als sie den Bus entdecken, vergessen sie den Hund, vergessen sie den Ball. Laufen, tragen die Neuigkeit wie Feuer durch die Straßen, sagen allen Bescheid. Os Alemaes. Die Deutschen. Sie sind da. Das Spiel. Es geht hier gleich los.

Fünf Minuten vergehen, nicht ganz, da ist die Straße gefüllt, lehnen Gesichter am Zaun, schauen auf den Platz, auf dem jetzt die Männer stehen. Julio, in seinem Torwarttrikot. Zufrieden.

Ein Deutschland-Trikot, sagt einer, bringt 200 Reais. Das ist für einige hier ein halber Monatslohn

Julios Jungs, sie sind alle gekommen. Die Funkeiros. Die nicht nur hier sind, weil sie auch mit dem Ball am Fuß tanzen können. Kaum etwas verkörpert die Favela so sehr wie sie. Und kaum etwas ist gleichzeitig so sehr stigmatisiert wie ihre Musik, ihre Partys, Baile Funk, die Exzesse im Wummern der Soundsysteme. Funk ist: Prostitution, Drogen, Gangster, in den Händen Maschinenpistolen, die Taktstöcke für den Sound der Favela.

Oben, in den Hügeln der in Sichtweite gelegenen Favela Complexo do Alemao, sind die Funkpartys mittlerweile verboten. Die Befriedungspolitik hat die Soundsysteme verstummen lassen.

Die Funkeiros aber, sie sind unter sich. Die UPP, sie ist auch diesmal nicht sichtbar. Kein Polizist steht auf diesem Platz. Vielleicht, weil man den Frieden nicht gefährden will. Vielleicht, weil der Fußball kein schusssicherer Sport ist.

Die Deutschen betreten diesen Platz mit unsicheren Schritten. In den Maschen des Zaunes die Kinderblicke. Die Funkeiros sind Popstars hier. Die Kinder wissen, für wen sie hier jubeln. Die Deutschen wissen nun, was das bedeutet: Auswärtsspiel.

Funkeiros gegen Alemaos. Die weißen Trikots der Deutschen waren zwar begehrter, doch auf dem Platz siegten am Ende die Lokalhelden.
Funkeiros gegen Alemaos. Die weißen Trikots der Deutschen waren zwar begehrter, doch auf dem Platz siegten am Ende die Lokalhelden.

© promo

Doch am Mittelkreis schütteln Hände die Bedenken ab. Willkommen in der Maré. Eine Aufforderung zum Tanz. Die Hoffnung auch: der Schweiß zusammen, das schweißt zusammen.

Vorne im Sturm der Funkeiros spielt einer, der mit dem SUV gekommen ist. MC Smith. Die schwarzen Haare wie Nadeln aufgestellt, die Schuhe bunt. Ihn kennen hier alle. Wenn Funk der Rock’n’Roll der Favela ist, dann gibt er den Elvis. Gibt er den geläuterten Rebell. 2011 wurde er vorübergehend festgenommen. Wegen illegaler Partys, sagen die einen. Wegen illegaler Kontakte, sagen die anderen.

Nun entscheidet er das Spiel mit den Deutschen, weil er ihnen den Rhythmus voraushat. Die Funkeiros, sie enttäuschen die Kinder nicht. Mit dem Schlusspfiff, in die Nacht hinein, das Flutlicht färbt die Straße orange, aber beginnt das eigentliche Spiel. Der Sturm der Kinder. Rudelbildung. Für die Jagd. Ein Deutschland-Trikot, sagt einer, bringt 200 Reais. Das ist für einige hier ein halber Monatslohn.

Und MC Smith versammelt die Kinder um sich, spricht in die Kameras. Deutsches Fernsehen, brasilianisches Fernsehen. Niemand trägt eine schusssichere Weste. Er steht dort, während die Deutschen weiter ihre T-Shirts verteilen, und erklärt das noch mal mit der Befriedung, die auch für ihn eine Besatzung ist: Die Menschen hier werden behandelt wie Verdächtige, sagt er, greift sich einen, der neben ihm steht. Bürger, ruft er, stell dich an die Wand! Stellt ihn an den Zaun, tut so, als durchsuche er ihn. Sagt schließlich: Das Militär ist nicht rücksichtsvoll. Aber die Favela braucht Liebe. Dann steigt er in seinen SUV.

Später neben dem Platz, die Kinder sind weitergezogen, sprechen dort noch ein paar der Deutschen mit Bewohnern des Viertels. So gut es geht, Bier in der Hand.

Julio steht etwas abseits, als das Militär heranrollt. Ein Dutzend Männer, Flecktarn, Weste und Helm, die Maschinengewehre im Anschlag, auf der Ladefläche eines Lasters. Darunter ein Aufkleber: Wählt Pazifizierung. Dazu eine Telefonnummer. Sie ziehen vorüber, ohne Regung.

Julio schaut ihnen nach. Geht dann langsam zu den anderen Jungs.

Die Angst, sie sitzt auf der Ladefläche eines Lasters.

Der Fremde, er ist kein Deutscher.

Wenige Tage nach dem Spiel, in der Nacht von Sonntag auf Montag, kam es im Complexo da Maré zu Zusammenstößen zwischen dem Militär und Bewohnern der Favela. Nach einer Party wurde ein Fahrzeug des Militärs mit Stöcken, Ziegeln, Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern beworfen, von den Dächern zudem das Feuer eröffnet. Bei den Schützen soll es sich nach brasilianischen Medienberichten um Schmuggler gehandelt haben. Das Militär antwortete mit Kugeln Kaliber 12. Verletzt wurde niemand. Um 4 Uhr morgens legte sich wieder Ruhe über die Maré.

Zur Startseite