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Lurz

© dpa

Deutsche Schwimmer: Operation Rennente

Die deutschen Schwimmer reisen stets als aussichtsreiche Kandidaten zu Olympia. Doch wenn es ernst wird, lähmt sie die Angst. Nun sollen Psychologen die Stars retten.

Der Becher tanzt über die Wellen, zu weit von ihm entfernt, als dass er ihn noch zu fassen bekommen könnte. Aus den Augenwinkeln kann Thomas Lurz noch sehen, wie er abtreibt. Er darf darüber nicht nachdenken, wenn er seine Chance behalten will. Er weiß, dass seine Qualen gleich noch schlimmer werden.

Am Ufer ist schon die Hafenkulisse von Sevilla zu sehen. Er ist vorne dabei in diesem Rennen. Aber seine Muskeln brennen, der Atem sticht, er ist fünf Kilometer durchs Mittelmeer gepflügt, die Hälfte der Distanz, er braucht diesen Becher jetzt, die hochdosierten Kohlenhydrate, die ein Helfer ihm von einem Boot heruntergereicht hat, sie sollen seine Kraftreserven mobilisieren. Die anderen haben ihre Becher geleert, Kraft getankt, aber seiner treibt von ihm weg, einer der Rivalen hat ihm im Gedränge den Becher aus der Hand geschlagen.

Als er aus dem Wasser steigt, hat Thomas Lurz bei der Freiwasser-Weltmeisterschaft die Bronzemedaille über 10 Kilometer gewonnen. In diesem Moment, sagt sein Bruder und Trainer Stefan Lurz, „sah er aus wie eine Leiche“. Zwei Tage später schon ist Thomas Lurz in der Lage, sich wieder zu quälen. Er wird Weltmeister über fünf Kilometer.

Es ist eine Geschichte aus dem Mai dieses Jahres. Sie könnte Örjan Madsen Mut machen. Eigentlich. Madsen steht im Sportforum Hohenschönhausen am Rand des Schwimmbeckens und beobachtet das Training. Madsen, ein Mann mit kantigen Zügen und Augen, die ziemlich kalt dreinblicken können, ist der Cheftrainer der deutschen Schwimmer, die sich hier, im Nordosten Berlins, auf die Olympischen Spiele vorbereiten.

In einer Woche beginnen in Peking die Schwimmwettbewerbe. Madsen wird mit 26 Athleten dort sein und mit einem Problem: Er hat zu wenige Leute wie Thomas Lurz. Stattdessen hat er 24 Beckenschwimmer. Das ist Schwimmerjargon, frei übersetzt heißt es, dass ihnen die Härte fehlt. Dass Madsen befürchten muss, dass seine Leute, obwohl sie eigentlich gewinnen können, den anderen hinterherschwimmen, weil die Psyche versagt. Mal wieder.

Bei Olympia werden Schwimmer unsterblich, ein Titel hier zählt mehr als bei einer Weltmeisterschaft. Aber es ist in den vergangenen Jahren zu einer Art Regel geworden, dass die deutschen Schwimmer, einst eine der deutschen Parademannschaften bei Olympia, chancenreich zu den Spielen anreisen und als Geschlagene zurückkehren.

Thomas Rupprath, einer der erfahrensten in der Mannschaft, sitzt auf einer Steinbank am Beckenrand. Das Training an diesem Tag ist absolviert, Rupprath hat sich ein Handtuch um die Hüfte gewickelt. Es war ein sonniger Trainingstag. Rupprath starrt zum Becken und sagt: „Beckenschwimmer sind verwöhnt und sensibel. Und sie sind sensibel, weil sie alle Angst haben zu versagen.“ Es ist keine Kollegenschelte. Rupprath ist selbst ein Beckenschwimmer. Er hat Medaillen gewonnen. Aber er wird froh sein, wenn er in Peking über 100 Meter Rücken und 100 Meter Schmetterling ins Finale kommt. Er ist jetzt 31, seinen Zenit hat er wohl überschritten, er ist lange dabei. Zu lange, um mit seiner Meinung zurückzuhalten. Neben ihm steht einer, von dem er viel hält und der so anders ist als er und der Rest des Teams.

Thomas Lurz ist ein schlaksiger Mann mit blassen, dünnen Armen und dünnen Beinen. Muskulös, aber nicht mit einem so imposanten Brustkorb wie Rupprath. Einer, der kein Wort zu viel redet.

„Der Thomas“, sagt Rupprath in feierlichem Ton, „ist der größte Kämpfer, den wir haben. Kaum einer kann sich so quälen wie er.“ Lurz hört ihm ohne erkennbare Regung zu. „Der Thomas macht sich keine Gedanken, wie das Wasser ist. Blau oder grün, das ist ihm völlig egal.“ Rupprath stemmt beide Füße auf den Boden und richtet sich auf. „Aber ich, ich sage: Dieses Scheißbecken, diese Scheißleine, da schwimme ich zwei Zehntelsekunden langsamer.“ Rupprath meint das ernst.

Lurz grinst. Er schwimmt in Peking zehn Kilometer, nicht im Becken, im Meer. Es ist eine Art Nahkampf im Wasser, es wird gebissen, getreten, geschlagen. Und das Meer nimmt keine Rücksicht darauf, ob die Schwimmer Wellen mögen und ob ihnen die Wassertemperatur genehm ist. Es kommt darauf an, leidenschaftlich leiden zu können. Lurz ist der Goldkandidat, weil er genau das kann.

Und die anderen? Als Örjan Madsen im März 2006 als deutscher Chef-Trainer antrat, gab er als Ziel für Peking aus: mehr Medaillen als bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen. Eine seiner ersten Amtshandlungen war, möglichst viele Schwimmer in die Praxen von Mentaltrainern zu treiben. Wer gewinnt und wer absäuft, wird im Kopf entschieden, davon ist Madsen überzeugt. Inzwischen ist er vorsichtig geworden, was den Erfolg seiner Schützlinge angeht. Er sagt: „Mehr als sechs Medaillen zu gewinnen, wird unwahrscheinlich schwierig.“

Drei Psychologen betreuen das Schwimmteam in Peking. Sie werden zu tun haben. Deutsche Schwimmer sind wie jene hochgezüchteten Rennpferde, die schon das Husten eines Zuschauers aus dem Trab bringt. Bei der Weltmeisterschaft 2003 waren ihnen die Startblöcke zu steil und die Trennleinen nicht gut genug, bei den Olympischen Spielen ein Jahr später in Athen klagten sie über die Wellen im Pool. Am Ende blieben sechs Medaillen, nur sechs.

Die ersten Monate dieses Jahres haben den deutschen Schwimmern eine Idee davon vermittelt, was sie in Peking erwartet. Die Konkurrenz ist vorneweg geschwommen. Mehr als 50 Weltrekorde wurden in diesem Jahr aufgestellt, keiner von einem deutschen Schwimmer. Allerdings auch nicht alle mit legalen Mitteln. Gerade erst flog die Amerikanerin Jessica Hardy als Dopingsünderin auf. Bundestrainer Madsen hat seinen Schwimmern eines der härtesten Anti-Doping- Programme der Welt auferlegt. Doch die Frage bleibt, warum die Deutschen nicht ihre besten Leistungen bringen, wenn es darauf ankommt.

„Manche haben Angst“, sagt Madsen.

Er hofft, dass in Peking mindestens zwei von ihnen mit ihren Ängsten klarkommen: Britta Steffen und Annika Lurz, die Ehefrau von Stefan Lurz, dem Trainer und Bruder des Schwimmers Thomas Lurz. Die beiden Frauen gelten als Medaillenkandidatinnen, über 100 Meter und 200 Meter Freistil. Steffen hielt bis vor Kurzem einen Weltrekord, Lurz ist Vize-Weltmeisterin.

Steffen litt 2004 noch sehr unter dem Druck, als Nachfolgerin von Franziska van Almsick gehandelt zu werden. So sehr, dass sie mit dem Sport zunächst aufhörte. Erst als sie mit einer Mentaltrainerin arbeitete, begann ihre Weltkarriere. Und Annika Lurz zitterte noch bis vor ein paar Monaten bei großen Wettkämpfen auf dem Startblock, so nervös war sie. Bei der WM 2007 wäre sie mit einer indiskutablen Zeit über 200 Meter Freistil beinahe schon im Vorlauf gescheitert. „Pack Deine Sachen“, brüllte ihr Mann nach dem Rennen, „du hast bei einer WM nichts verloren.“ Die ersten beiden Tage der WM waren für die Deutschen enttäuschend gewesen, danach setzte eine kollektive Depression ein. Lurz hatte ihren Start am dritten Tag, sie war schon infiziert.

„Dieses Aufregen über Kleinigkeiten ist ein Zeichen von Schwäche“, sagt Thomas Rupprath. „Wenn ich selbstbewusst bin, kann es mir doch egal sein, wie steil der Block oder wie die Leine ist.“ Er ist abgeklärter geworden. Rupprath sprang bei der Europameisterschaft 2002 in Berlin direkt nach Franziska van Almsick ins Wasser. Van Almsick hatte mit Weltrekord Gold über 200 Meter Freistil gewonnen, die Halle tobte. „Die Stimmung war der Wahnsinn“, sagt Rupprath. „Da habe ich mir gesagt, du bist ein Guter.“ Er gewann Gold über 100 Meter Schmetterling. Ganz hat er die sensible Gedankenwelt eines Beckenschwimmers aber bis heute nicht verlassen.

Beckenschwimmer. Wenn Stefan Lurz das Wort ausspricht, klingt es manchmal wie ein Schimpfwort. Lurz war mal Freiwasserschwimmer wie sein Bruder Thomas. Inzwischen zeigen sich unter seinem T-Shirt die Konturen eines Bäuchleins, er ist jetzt 31 und Trainer. Auf der Terrasse eines Berliner Hotels drückt er sich in die Lehne seines Stuhls und sagt: „Dieses Gejammer über Kleinigkeiten ist doch nur das Ende einer ganzen Kette.“ Die ersten Glieder dieser Kette sind für ihn mangelnder Trainingswille und fehlende Wettkampfhärte. „Mir ist es zu einfach zu sagen, die anderen dopen. Andere, ausländische Sportler trainieren einfach härter, sie gehen öfter an Leistungsgrenzen.“ Und wer nicht robust sei, könne auch kein Selbstbewusstsein aufbauen. Punkt.

Lurz kommt auf die USA zu sprechen. Dort gebe es keine Stars, nur Sportler, die zu funktionieren haben. „Wenn die Trainer bei uns mit Sportlern so umgehen würden wie sie es dort machen, würden die hier durchdrehen“, sagt Lurz. Wer aus der Reihe tanzt, wird vor dem Team bloßgestellt. Wer in einem Jahr dreimal zu spät kommt, fliegt raus, egal, wie er heißt.

In den USA ist die Konkurrenz schon innerhalb des Teams extrem. Alle Topsportler schwimmen für Universitätsmannschaften, die ständig gegeneinander antreten. Wer sich bei diesem Wettkampfstress durchsetzt, den erschüttert nicht mehr viel. „Wir in Deutschland haben versäumt, bei Wettbewerben zu starten, bei denen auch internationale Stars schwimmen“, sagt Lurz. Damit fehle die Wettkampfhärte. Der Umgang auch mit den Psychotricks.

Die wichtigste Bühne dafür ist der Callroom, der Raum, in dem die Schwimmer mit ihren Trainern in den letzten Minuten vor dem Rennen warten. Stefan Lurz saß bei der WM 2007 mit seiner Frau im Callroom. Die US-Amerikaner kamen grundsätzlich zu spät, und sie kamen laut. Sie klatschten in die Hände, schrien „Let’s go!“. Eine Schwimmerin stöckelte in rosa Stiefeln in den Raum. Dort warteten die deutschen Schwimmer, denen schon die riesige Halle mit ihren 15 000 Zuschauern Respekt einflößte. Aber kann man Sportlern Härte verordnen?

Örjan Madsen, der Cheftrainer, steht hinter den Startblöcken und beobachtet das Training. Er brüllt keine Kommandos, er beobachtet, die Arme vor der Brust verschränkt. Er strahlt die Aggressivität eines Habichts auf der Jagd aus. Als er seinen Job antrat, hatte er erklärt: „Wer nicht mitzieht, auf den werde ich nicht warten.“ Er forderte härteres Training.

Er war so, wie Stefan Lurz sich einen guten Trainer vorstellt. Den Schwimmern aber war Madsen zu rau. Die WM in Melbourne geriet zur Enttäuschung.

Nun sollen Psychologen eine neuerliche Mannschaftsdepression verhindern . Medaillen, das weiß Madsen, holen am ehesten die Staffeln. Eigenartigerweise verwandeln sich die, die in den Einzelrennen absaufen, dort oft genug in harte Kämpfer. Keiner hat sich innerhalb weniger Tage eindrucksvoller gewandelt als Lars Conrad, der Freistilspezialist aus Hannover, bei den Olympischen Spielen vor vier Jahren. Im Einzelrennen über 100 Meter hatte er nicht mal das Halbfinale erreicht. Dann kam die 4x100-Meter-Lagenstaffel. „Ich habe den Applaus der Zuschauer richtig aufgesogen“, sagt Conrad. Die Trainingseinheit ist vorüber, er hat einen Trainingsanzug angezogen, steht am Becken. Es ging um Silber: Japan oder Deutschland? Als die Staffel im Callroom auf den Aufruf wartete, sagte Conrad zu den anderen: „Selbst wenn der Japaner zwei Längen vor mir liegt, hole ich ihn.“ Er war der Schlussschwimmer. Als er ins Wasser sprang, hatte Japan sieben Meter Vorsprung, eine Welt. Nach 50 Metern hatte Conrad den Kontrahenten eingeholt, und als er anschlug, hatte Deutschland Silber.  „Ich war“, sagt Conrad, „wie in einem schwarzen Tunnel.“ Er kann es nicht erklären. „Bei der Staffel, da schwimmt man halt für alle anderen.“

Der Tunnelblick, das ist nun die große Hoffnung. Niemand kann so recht sagen, wie man ihn bekommt. Aber wer ihn hat, für den scheint es zu laufen. Und manchmal scheint auch schlicht Härte zu helfen.

„Du hast bei einer WM nichts zu suchen.“ Die Ansage ihres Mannes hat Annika Lurz noch heute in den Ohren. Sie hätte fast geheult, damals im Hotel. Dann lieferte sie im Finale ein paar Tage später den besten Start ihres Lebens, sie legte die ersten 15 Meter so schnell wie noch nie zurück. Sie unterbot ihre eigene Bestzeit um fast eine Sekunde. Ein Jahr ist das her. Und nun, in Peking, ist sie eine der Favoritinnen auf ihrer Paradestrecke. Sie arbeitet intensiv mit einer Psychologin. Ist eine erneute Psychokrise also ausgeschlossen? Ihr Mann wartet einen langen Moment, bevor er antwortet. „Leider“, sagt er dann, „kann ich bei Annika nicht ausschließen, dass so etwas wieder passiert.“

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