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Deutschland - Frankreich: N’Golo Kanté: Der Wunderspieler

Frankreichs Kanté ist ein Mann der Superlative und ein Spieler, dem man auf dem Platz nicht gerne in seiner Nähe hat. Deswegen hat er einen besonderen Spitznamen.

Mit Geschichten über das Wunder von Leicester hätte man im Frühjahr eine zweite British Library in London eröffnen können. Mit jedem Sieg machten immer neue, noch unglaublichere Storys die Runde.

Die meisten dieser Geschichten über den englischen Sensationsmeister handelten natürlich von Jamie Vardy, einem Jungen, der vor ein paar Jahren noch mit Fußfessel durch den unterklassigen englischen Fußball turnte und in Leicester zu einem der besten Stürmer der Premier League geworden war.

Manchmal aber, wenn der Schwärmende einen Blick hinter die Kulissen wagte, erzählten die Geschichten auch von Steve Walsh. Das Märchen vom Scout mit dem goldenen Näschen.

Steve Walsh ist ein gemütlicher älterer Herr mit grauen Schläfen, einer hohen Stirn und tiefen Augenhöhlen. In den Siebziger Jahren machte er ein paar Trainerscheine, danach arbeitete er als Scout für Bury und Chester City. Weil er seine Arbeit ganz ordentlich verrichtete, durfte er danach auch für Chelsea oder Newcastle United Nachwuchsspieler beobachten. Seit 2010 arbeitet er für Leicester.

Er war es, der No-Name-Spieler wie Vardy und Riyad Mahrez zu den Foxes holte. Er war es auch, der seinen Trainer Claudio Ranieri überredete, N’Golo Kanté vom französischen Klub SM Caen loszueisen. Das war im Sommer 2015.

Und vielleicht muss man an dieser Stelle schon mal kurz vorspulen, ans Ende der Saison, um auch diese wundersame Episode aus Leicester zu verstehen. Denn spätestens, als Leicester sich auf der Meisterzielgeraden befand, überhäuften Mitspieler, Ex-Trainer oder Ex-Profis N’Golo Kanté, den neuen Wunderspieler malischer Herkunft, mit Lobeshymnen.

„N’Golo ist mit großem Abstand der beste Spieler der Premier League“, sagte etwa Sir Alex Ferguson. „Die Komplimente für Mahrez und Vardy sind berechtigt, aber wenn es einen besseren Neuzugang als Kanté in dieser Saison gab, habe ich ihn nicht gesehen“, jubelte Englands Sturmlegende Gary Lineker.

Sein Spitzname ist "the Rash"

Sie verglichen ihn mit Claude Makélélé. Und sie wählten einen sonderbaren Spitznamen: „The Rash“, was so viel wie „Hautausschlag“ bedeutet. Schließlich sei Kanté einer, den man auf dem Platz nicht gerne in seiner Nähe habe. So erklärte das jedenfalls sein Mitspieler Danny Drinkwater.

Kanté selbst blieb relativ gelassen. Er sagte, das würde ihm schmeicheln, nur die Sache mit Makélélé müsse er revidieren, er wolle lieber spielen wie Lassana Diarra. „Von dem war ich großer Fan!“

Im Sommer 2015 ist Kanté aber nichts weiter als eine fixe Idee. Ein Name, der immer und immer wieder aufpoppt, weil Steve Walsh ihn ständig erwähnt. Dabei will Leicester neuer Coach Claudio Ranieri nach dem Weggang von Esteban Cambiasso eigentlich einen gestandenen Profi fürs Mittelfeld verpflichten und nicht einen Newcomer, der in seiner Vita Vereine stehen hat wie US Boulogne oder SM Caen. Der gerade einmal eine Ligue-1-Saison hinter sich hat.

Doch Walsh gibt nicht auf. Er referiert über das große Potenzial Kantés. Über einen, der in Frankreichs Ligue 1 in der Saison 2014/15 die meisten Zweikämpfe und die meisten Ballgewinne verzeichnen konnte. Der europaweit sogar die meisten Bälle abgefangen hat.

Schließlich gibt Ranierei nach. Acht Millionen Euro kostet der Spieler. Viel Geld für einen Mann, den bis dahin kaum jemand kannte. Ranieri verpflichtet zwei Wochen später sicherheitshalber auch Gökhan Inler. Glaubt Ranieri immer noch nicht an Walsh und seine Expertise?

Alleine im Monat April bestreitet er 149 Zweikämpfe. Saisonrekord

Sieben Monate später spricht niemand mehr über Inler – der Schweizer macht in der Saison 2015/16 gerade mal fünf Spiele –, dafür ist Kanté nun in aller Munde. Auch in England steht er in zahlreichen Defensivstatistiken ganz vorne: Alleine im Monat April bestreitet er 149 Zweikämpfe. Saisonrekord.

In jenen Tagen bestreitet Kanté sein erstes Länderspiel für Frankreich. Und auch im Nationalteam ist er keiner, der sich durch spektakuläre Aktionen in Szene spielt. Er spielt taktisch clever und aggressiv im Pressing, ein kompakter und dauernervender Box-to-Box-Spieler. Einer, der immer anspielbar ist, der überall dort ist, wo der Gegner gerade steht. Der den kleinen und unscheinbaren Pass dem großen Spektakel vorzieht.

So ist es auch im EM-Eröffnungsspiel gegen Rumänien. In der 88. Minute schiebt Kanté den Ball nur ein paar Meter weiter zu Dimtri Payet. Payet schießt und trifft zum 2:1, später ist der West-Ham-Stürmer der gefeierte Held des Spiels. Über Kanté, diesen Arbeiter im Mittelfeld, spricht kaum jemand. Dabei hat er wieder die meisten Zweikämpfe bestritten, die meisten Bälle abgefangen, ist die meisten Kilometer gelaufen. Er ist wieder mal der Mann der Superlative.

Wo Claudio Ranieri das Spiel geschaut hat, ist nicht überliefert. Aber vielleicht dachte er in jener 88. Minute auch noch mal an den Tag, als er Walsh beiseite nahm und sich entschuldigte. Weil er ihm nicht glauben wollte, wie gut Kanté wirklich ist. An den Tag, als er sagte: „Steve, höre nie wieder auf mich. Ich weiß nicht, wovon ich rede.“

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