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So gehen die Deutschen - jedenfalls dann, wenn sie sich über die "Gauchos" lustig machen.

© dpa

Update

Deutschland gegen Argentinien: Gauchogate und die Heldenbeschimpfer

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft spielt am Mittwochabend gegen Argentinien. War da nicht mal was? Ein kleiner Rückblick auf den Gauchotanz - und was uns der Vorfall lehrt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Die Sache selbst ist geklärt. Der sogenannte Gauchotanz der sechs deutschen WM-Spieler am 15. Juli bei ihrer Siegesfeier auf der Bühne am Brandenburger Tor war ein Fehler. Dafür entschuldigt hat sich der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), Wolfgang Niersbach, in einem Brief, den er sechs Tage später seinem argentinischen Amtskollegen, Julio Humberto Grondona, zusandte. Der Tanz sei „in keinster Weise despektierlich gemeint“ gewesen, schrieb Niersbach. Grondona antwortete seinem „lieben Freund“ umgehend. Der 82-Jährige gratulierte der deutschen Mannschaft zum Titelgewinn und beteuerte, ihm sei „gar nicht in den Sinn gekommen, dass es sich um etwas Schlimmes gehandelt haben könnte“.
Acht Tage nach seiner Antwort starb „Don Julio“, der auch Vizepräsident der Fifa war. Er erlag einem Herzleiden, das in keinem Zusammenhang mit der WM stand. Damit ist die Angelegenheit vom Tisch, bereinigt und aus der Welt. Bei der Neuauflage des Finales, der Begegnung Deutschland–Argentinien an diesem Mittwoch, wird der Vorfall sicher keine Rolle spielen. Dennoch lohnt ein kleiner Rückblick. Denn lehrreich dürfte „Gauchogate“ aus ethnologischer Sicht sein. „Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen“, wusste schon Kurt Tucholsky.

Keiner zog die Nazi-Keule, sprach von Rassismus oder Faschismus

Was war passiert? Am Tag des Tanzes gab es dazu genau zwei (!) Kommentare in Online-Medien („Frankfurter Allgemeine Zeitung“, Tagesspiegel), außerdem äußerte sich die Chefredakteurin der „tageszeitung“ in einem Tweet. Das war alles. Keiner zog die Nazi-Keule, sprach von Rassismus oder Faschismus. Etwas derber ging es lediglich auf Twitter zu, wo auch der Begriff „Gauchogate“ geprägt wurde. Dann jedoch geschah, wie „Bild am Sonntag“ freudig bilanzierte, „etwas Ungewöhnliches: ein Shitstorm brach los – allerdings über die Nörgler. Ganz nach dem Motto: Wir lassen uns die Freude am Feiern nicht durch diese pseudointellektuellen Pessimisten verderben“.
Deutlicher war die „BZ“ auf ihrer Titelseite. Dort wurden die mutmaßlichen Nörgler „Wutbürger, Weltverbesserer, Zeigefingerschwinger“ genannt. Franz Josef Wagner, der Star-Kolumnist von „Bild“, schrieb: „Ich hasse die Leitartikler, diese Weltverbesserer, die in ihrem Zigarettenqualm um ihre Ideale ringen. Ich weiß nicht, ob sie jemals an der frischen Luft waren. Ich glaube, dass diese Typen nur Gift spritzen können.“

"Der Schmutz am Wörtchen ,wir‘ wird noch lange kleben bleiben"

In einem Essay in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ beschrieb Claudius Seidl den Umschlag vom kollektiven Glück in kollektiven Hass so: „Im Laufe der Woche konnte man sehr schön beobachten, wie die Gemeinschaft der ,Wir sind Weltmeister‘ sich den Gegner erfand, den sie dringend brauchte: Bloß weil der eine oder andere Kommentator die Noblesse der Sieger am Endspielabend sympathischer fand als die Schmähung der Verlierer bei der Feier in Berlin, warfen die Gesinnungsweltmeister in den sozialen Netzwerken und den dümmeren und hässlicheren Zeitungen des Boulevards mit so viel Unrat nach allem, was nur entfernt wie eine Brille, eine Differenzierung oder, Schimpfwort der Stunde, ,das Feuilleton‘ aussah, dass der Schmutz am Wörtchen ,wir‘ noch lange kleben bleiben wird.“

Die Legende von der unverkrampften Nation

Seit der WM 2006 versuchen viele Deutsche, auf ihren angeblich unverkrampften, liberalen und weltoffenen Nationalismus stolz zu sein. Nicht bedacht haben sie, dass ein Gradmesser für Unverkrampftheit auch die Fähigkeit ist, mit Kritik umzugehen. Gemessen an der Schwere der Vorhaltungen, die Deutsche etwa Amerikanern gerne machen – Todesstrafenvollstrecker, Überwachungswahnsinnige, Militaristen, Waffennarren, Rassisten –, erstaunt die Gelassenheit, mit der die Gescholtenen reagieren. Hätten die Deutschen auch nur einen Bruchteil davon an den Tag gelegt, als ihre Fußballhelden wegen eines verunglückten Tanzes kritisiert wurden, würde es ein wenig leichter fallen, an die Legende von der unverkrampften Nation zu glauben. Ein guter Test wäre es, wenn die Niederlande in vier Jahren im Endspiel gegen Deutschland gewinnt und sich die „Oranjes“ anschließend über die gebückt gehenden Deutschen mokieren. Ob es auch dann heißt, das seien international übliche Feierrituale?

Edit: In einer früheren Version dieses Artikels verwies der Artikel noch auf den Satireaccount @tweetsvonwagner. Manchmal verstehen wir Satire auch nicht. Herzlichst, die Tagesspiegel-Redaktion.

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