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Sport: Deutschland sucht das Tor

Vor dem EM-Qualifikationsspiel in Island sorgt sich die Nation um den Zustand ihrer Stürmer

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Reykjavik. Es zählt zu den Eigentümlichkeiten der modernen Mediengesellschaft, dass schlechte Nachrichten bevorzugt verbreitet und dass diese schlechten Nachrichten irgendwann zu noch schlechteren Nachrichten potenziert werden. Rudi Völler wurde gestern mit der erschreckenden Bilanz konfrontiert, dass seine Mannschaft seit dem 8:0 bei der Weltmeisterschaft gegen Saudi-Arabien in keinem Spiel drei Tore oder mehr geschossen habe. Der Übersetzer des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) verlängerte die Zeitspanne des Grauens für die Vertreter der internationalen Presse auf „almost two years“, fast zwei Jahre also. Ganz so schlimm ist es Gott sei Dank nicht. Zum einen liegt das Spiel gegen Saudi-Arabien erst 15 Monate zurück, und zum anderen hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft noch Anfang Juni 4:1 gegen Kanada gewonnen.

Das kleine Beispiel zeigt trotzdem ganz gut, wie es um die Gemütslage der Deutschen bestellt ist. Die Nation, die mit Gerd Müller gewissermaßen die Mutter aller Mittelstürmer hervorgebracht hat, dazu mit Uwe Seeler und eben Rudi Völler noch mindestens zwei weitere Angreifer von Weltklasseformat, Deutschland also sorgt sich um den Zustand seiner Stürmer. „Wir haben kein Stürmerproblem“, sagt Miroslav Klose, einer von vier Angreifern im Aufgebot für die beiden EM-Qualifikationsspiele heute in Reykjavik gegen Island und am Mittwoch in Dortmund gegen Schottland. Klose mag das so empfinden, in der Öffentlichkeit aber ist längst ein anderer Eindruck entstanden.

„Wichtig ist, dass wir uns Chancen erarbeitet haben“, sagt Teamchef Rudi Völler. Im Testspiel vor zweieinhalb Wochen gegen Italien waren es gleich neun, und trotzdem verloren die Deutschen 0:1. Zum ersten Mal seit dem WM-Finale gegen Brasilien hatte die Mannschaft kein Tor geschossen. Auch das 2:0 gegen die Färöer vor der Sommerpause war angesichts von zwölf Chancen ein eher dünner Ausdruck der deutschen Überlegenheit. „Das muss besser werden“, sagt Völler, und Kapitän Oliver Kahn verlangt von den Stürmern, dass sie „die Killermentalität entwickeln und irgendwann eiskalt das Tor machen“.

Die vier Stürmer, die Völler für die beiden Länderspiele nominiert hat, haben in der neuen Bundesligasaison gerade mal vier Tore erzielt. Oliver Neuville hat dreimal getroffen, Klose einmal, Kevin Kuranyi und Fredi Bobic noch gar nicht. Gegen Island nun wird es der deutsche Sturm mit einem Gegner zu tun bekommen, bei dem es laut Völler wie bei den meisten nordischen Mannschaften ist: „Sie sind taktisch sehr gut geschult und stehen in der Defensive sehr kompakt.“ Logi Olafsson, der Assistent des isländischen Nationaltrainers, hat zudem angekündigt, dass seine Mannschaft es den Deutschen nicht erlauben werde, „so anzugreifen, wie sie es gewohnt sind“.

Wenn die Deutschen angesichts solcher Drohungen nicht in kollektive Angststarre verfallen, so hängt das mit einem Spieler zusammen, der zuletzt sowohl gegen Italien als auch gegen die Färöer gefehlt hat. „Wir haben ja den Michael Ballack“, sagt Rudi Völler. Kaum hat er das ausgesprochen, wird ihm bewusst, dass die Aussage missverstanden werden könnte – in dem Sinne, dass eben Ballack die Tore macht, wenn die Stürmer wieder nicht treffen. Dabei meint Völler vor allem die Rolle als Vorbereiter. Fredi Bobic sagt, dass allein Ballacks Präsenz wichtig sei: „Gerade auf ihn achtet der Gegner.“

Ob der hohen Erwartungen hat Ballack schon vor seiner Rückkehr in die Nationalelf via „Kicker“ verkünden lassen: „Ich bin kein Heilsbringer.“ Aber spätestens seit der WM vor einem Jahr hat er den Ruf, in den entscheidenden Momenten die wichtigen Tore für die Nationalmannschaft zu schießen. Aus dem aktuellen Aufgebot hat nur Miroslav Klose häufiger getroffen als Ballack. In der EM-Qualifikation gibt es keinen deutschen Spieler, der erfolgreicher war als der Münchener. Karl-Heinz Rummenigge, Vorstandsvorsitzender von Ballacks Arbeitgeber FC Bayern, hat den 26-Jährigen bereits zum „torgefährlichsten Mittelfeldspieler der Welt“ geadelt. Trotzdem müsse Ballack nicht alle Tore gegen Island schießen, sagt Völler. Zumindest einer kommt als Torschütze aber nicht mehr in Frage: Jens Jeremies erhielt wegen einer Sehnenreizung im Knie Spielverbot von Mannschaftsarzt Müller-Wohlfahrt.

Rudi Völler meint aber auch, dass es nicht immer von Vorteil ist, zu viele Tore zu erzielen: „Wenn du zu hoch gewinnst, heißt es gleich, dass der Gegner zu schwach war.“ Vor anderthalb Jahren war das so, als die Deutschen gegen Israel gleich sieben Tore in einer Halbzeit schossen. „Hätten wir nur 3:1 gewonnen“, sagt Völler, „wäre unsere Leistung besser gewürdigt worden.“

Stefan Hermann

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