zum Hauptinhalt
Seid umschlungen. Thomas Müller übt mit WM-Siegtorschütze Mario Götze (rechts) und Vorlagengeber André Schürrle schon mal den Zusammenhalt für die EM.

© imago/Schüler

Deutschland vor der EM in Frankreich: Reicht die Zeit für den Weltmeister?

Teamgeist führte die Nationalelf in Rio zum WM-Titel. Es folgten zwei schwache Jahre. Jetzt muss eine neue Zeit beginnen.

Ein letztes Mal sind sie auf dem Trainingsplatz zusammengelaufen, die Spieler und das Trainerteam. Wie fast jeden Morgen haben sie nach dem individuellen Aufwärmen einen Kreis gebildet, die erste Woche unter der Sonne Tessins, die zweite meist im Regen. Oft genug war der Monte Verità, der Berg der Wahrheit, von Wolken verhangen.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Berg in Asconas Rücken ein Treffpunkt von Weltverbesserern, Ausdruckstänzern, Pazifisten und allerlei alternativen Lebensreformern. Heute unterhält die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich ein Konferenzzentrum dort. Vor zehn Jahren wurde dann noch ein Teepark eröffnet.

Aber auch die deutsche Mannschaft, eben noch hochdekoriert und der ganze Stolz einer Nation, ist nicht mehr ganz das, was sie einmal war. Ein eingespieltes und verschworenes Gebilde, eines, das in Brasilien zum WM-Gipfel stürmte und als erste europäische Nation auf dem südamerikanischen Kontinent den wichtigsten Titel der Fußballwelt gewann.

Wenn man die Zeichen und Signale der auslaufenden Woche positiv deuten will, dann befindet sich die Mannschaft von Joachim Löw gerade inmitten eines mühevollen Aufstiegs zum Gipfel. Sie muss sich finden und ein paar Widrigkeiten überwinden. Viel Zeit bleibt nicht mehr. In einer Woche beginnt die EM.

Aber wo ist der Weltmeister?

Fast zwei Wochen lang hielt die deutsche Mannschaft ein Trainingslager in Ascona am nördlichen Ufer des Lago Maggiore im Schweizer Kanton Tessin ab. Fast jeden Tag mühten sie sich auf dem eigens dafür sanierten Platz des Stadio Comunale. Ihr Anfangsritual erinnerte ein bisschen an einen Stuhlkreis, wie er morgendlich in Kitas oder Grundschulklassen abgehalten wird. Bei der Nationalmannschaft dauerte er selten länger als drei, vier Minuten. Dann zerstob die große Gruppe in viele kleine Teile. „Wir sind dazu ein bisschen gezwungen, weil viele Spieler einen unterschiedlichen Status haben“, sagt Bundestrainer Joachim Löw.

Eine Gruppe ging dann zurück ins Fitnesszelt. Spieler wie Bastian Schweinsteiger, Mats Hummels oder Marco Reus, die angeschlagen waren und später, wie im Fall Reus, nach Hause geschickt wurden. Eine andere Gruppe, die der Vielspieler um Thomas Müller und Mesut Özil, regenerierte aktiv. Sie sollten mal runterfahren und den Kopf frei bekommen für neue Inhalte und das große gemeinsame Ziel. Der Rest der Spieler kickte derweil locker umher und übte bestenfalls ein paar kleine Spielformen.

Als Weltmeister kann es nur ein Ziel geben

Toni Kroos, der eben noch mit Real Madrid noch die Champions League zu gewinnen hatte, stieß erst am Mittwochabend dazu – zwei Tage vor der Abreise. Und Mats Hummels, der charismatische Verteidiger, der eben von Dortmund zum FC Bayern gewechselt ist, drehte bis zum letzten Tag nur Runden auf dem Rasen, die Folgen eines Muskelfaserrisses. Ein einheitlicher Trainingsablauf, einer mit allen 23 nominierten Spielern, wird erst in Frankreich möglich sein.

Das hat neulich Andreas Köpke gesagt. 1996 stand er im Tor, als Deutschland in England den bislang letzten EM-Titel gewann. Seit 2004 ist er Torwarttrainer und entstammt somit der kurzen wie revolutionären Klinsmann-Ära, in der auch Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff zu ihren Posten kamen. Seitdem diese drei ihre Arbeit aufgenommen haben, hat es die Nationalelf bei jedem Turnier unter die besten vier geschafft. WM-Dritter 2006 und 2010, EM-Finalist 2008 und EM-Halbfinalist 2012, vorläufige Krönung war der WM-Titel von Rio 2014.

Wenn die Mannschaft am Dienstag nach Frankreich aufbricht und in Evian-les-Bains am Genfer See ihr Turnier-Quartier bezieht, wird sie das mit der festen Absicht tun, zu dem vierten WM-Titel auch den vierten EM-Titel nach 1972, 1980 und 1996 zu gewinnen. Als Weltmeister kann es kein anderes Ziel geben, wie der Bundestrainer sagt. Das sehen auch die Spieler so, erst recht das deutsche Fußballvolk.

Doch wenn man an das Turnier in Frankreich denkt, kommen einem erst einmal ernste Fragen. Wird es friedlich bleiben bis zum 10. Juli, dem Tag des Finals im Pariser Stade de France? Dort sprengten sich im vorigen November am Rande eines Länderspiels zwischen Frankreich und Deutschland zwei Selbstmordattentäter in die Luft.

Köpke hat nach dem EM-Titel 1996 zwei Jahre lang für Olympique Marseille gespielt. Im November 2014 erlebte er während des Pariser Länderspiels die Terrornacht im Stade de France, wo das deutsche Team lange ausharren musste, ehe es am Morgen danach nach Deutschland ausgeflogen wurde. „Natürlich haben wir die schrecklichen Bilder alle noch im Kopf, aber bei mir überwiegt die Vorfreude. Ich verdränge die negativen Gedanken.“

Köpke sagt, was eigentlich alle im deutschen Tross sagen: dass man den Sicherheitsbehörden „zu einhundert Prozent vertraue“, obwohl jedem klar sei, dass es eine einhundertprozentige Sicherheit nicht gebe. Doch die Bilder vom November werden wieder hochkommen, Deutschland spielt zwei seiner drei Vorrundenspiele in Paris, eins davon in St. Denis. „Ganz wegschieben“ könne man das Erlebte nicht, wie es stellvertretend Jerome Boateng sagt, „aber das können wir nicht beeinflussen.“

Die Teamfindung schon. „Es geht darum, eine Einheit zu bilden und ein bedingungsloses Miteinander.“ Der Satz stammt von Joachim Löw und er beschreibt den momentanen Zustand des Weltmeisters zwei Jahre nach dem Triumph ganz gut.

Hinter seiner Mannschaft liegen zwei holprige Jahre, in denen der Weltmeister sich von sich entfernte und nicht wieder zu sich fand. Genau genommen war es die schwächste Phase der zehnjährigen Ära Löw. Die Nachwirkungen der WM in Brasilien fielen gravierender aus als angenommen. Vor allem mental wirkte die Mannschaft erschöpft.

"Keine Chance in der aktuellen Verfassung"

Die zurückliegende EM-Qualifikation war für die deutsche Mannschaft die schlechteste seit 32 Jahren. Selbst fußballerisch limitierte Mannschaften wie Irland, Georgien oder Schottland brachten den Weltmeister durch ihre Entschlossenheit und Leidenschaft ziemlich ins Schleudern. Und auch in den Testspielen konnte das deutsche Team selten überzeugen.

Dabei sollte ein Umstand Löw zu schaffen machen, der erst allmählich seine Wirkung entfaltete. Die Rücktritte aus der Nationalelf von Kapitän Philipp Lahm, Per Mertesacker und Miroslav Klose. Diese Spieler waren zehn Jahre und länger dabei, prägten durch ihren Charakter, ihre Menschlichkeit und ihre Art der Führung das Binnenklima.„Das waren Säulen, die weggebrochen sind“, sagte Löw.

Joachim Löw ist es in den zurückliegenden beiden Jahren nicht gelungen, neue Reize zu setzen oder der Mannschaft neue Impulse zu verleihen. Bis auf den Kölner Jonas Hector auf der linken Abwehrseite hat sich kein neuer Spieler nachhaltig in die Mannschaft spielen können. Auch spieltaktisch ist das Team weitgehend auf der Stelle getreten. Das kann, wird aber eher nicht reichen.

„Wenn wir ehrlich sind, hätten wir in unserer aktuellen Verfassung keine Chance.“ Das sagte Sami Khedira zu Jahresbeginn. Seitdem gab es die beiden Oster-Länderspiele in Berlin gegen England (2:3) und in München gegen Italien (4:1) sowie die untaugliche Wasserschlacht von vergangenem Wochenende in Augsburg gegen die Slowakei (1:3). „Was ich damit sagen wollte“, sagt Khedira jetzt: „Dass wir uns nicht zu sicher sein sollten. Jeder muss sich besinnen, was unsere Stärken sind und ein Stück Siegermentalität einbringen. Wir haben Qualität, aber es hat zuletzt auch was gefehlt.“ Daran werde man arbeiten müssen.

„Wir sind stark, aber nicht unbesiegbar“, war einer der Sätze, mit denen Löw in die Turniervorbereitung im Tessin ging. „Es wird wichtig sein, dass wir wieder den Team-Spirit wecken können, dieses bedingungslose Füreinander-Dasein.“ Und dann sei man auch in der Lage, das Turnier zu gewinnen.

Mit Schweinsteiger ist vor allem die Symbolik zurückgekehrt

Vier Tage vor dem letzten EM-Testspiel an diesem Samstag gegen Ungarn ist Bastian Schweinsteiger auf den Trainingsplatz zurückgekehrt. Und mit ihm ein Stück Weltmeister. Wobei es wohl mehr Symbolik ist. Seit März hat der bald 32-Jährige kein Spiel mehr bestritten, was nicht zu übersehen ist. Er cruist mit durchgedrücktem Kreuz über das satte Grün, was ihn ein wenig aufgeplustert erscheinen lässt. Auf Twitter postet jemand ein Foto und fragt: Wer ist der Dicke?

Löw hat Schweinsteiger nach dem Abdanken Philipp Lahms als Kapitän zu dessen Nachfolger ernannt. Es war eine naheliegende Lösung, aber eben auch eine, die sich mehr aus der Vergangenheit erklärte und nicht in die Zukunft wies. Schweinsteiger hatte wie ein Schlachtross gekämpft im Finale, doch der Veteran ist über die vielen Jahre auch mürbe geworden. Viele hielten schon diese Entscheidung für Symbolik. Und auch jetzt hat Schweinsteiger den Sprung in den endgültigen EM-Kader geschafft, obgleich er noch nicht spielfähig ist.

Optimistisch stimmt, dass das deutsche Team über eine gewisse Übung verfügt, mit angeschlagenen Stammkräften ins Turnier zu gehen, die sich dann im weiteren Verlaufe in Schwung bringen und der Mannschaft in den entscheidenden K.-o.-Spielen zur Verfügung stehen und helfen können. So war es auch vor der WM 2014, als Manuel Neuer, Philipp Lahm, Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger angeschlagen zur Turniervorbereitung kamen. Eine alte Fußballerweisheit besagt, dass man mit der Mannschaft, mit der man in ein Turnier geht, nie herausgeht. Große Mannschaften finden sich erst im Laufe eines Turniers.

Und diese Endrunde ist länger als die bisherigen. Statt 16 nehmen nun 24 Nationen teil, es wird zusätzlich eine Achtelfinalrunde ausgespielt. Von Vorteil für die Deutschen kann sein, dass Spieler wie Manuel Neuer, Jerome Boateng, Thomas Müller, Toni Kroos, Sami Khedira und Mesut Özil, die schon in Brasilien das Gerüst bildeten, im besten Fußballeralter sind. Sie spielen seit vielen Jahren zusammen, haben schwere Niederlagen durchlitten und große Siege gefeiert. Auf sie wird es auch in Frankreich ankommen.

In welcher Zusammenstellung auch immer, sie werden das Rückgrat bilden. Löw glaubt, dass er in diesem Turnier zwei unterschiedliche Anzüge für sein Team benötigt. Einen für die Gruppenphase, wo es auf Gegner trifft, die das Spiel des Weltmeisters unterbinden und zerstören wollen. Und einen zweiten Anzug für die K.-o.-Runde. Dort werden dann Spanien oder Belgien, vielleicht auch England die Deutschen fordern, Mannschaften, die selbst das Spiel machen und gewinnen wollen. Mannschaften, die „das Selbstvertrauen haben, uns in unserer Hälfte anzugreifen“, wie es Löw ausdrückt.

Mit welchem Selbstvertrauen, mit welchem Selbstverständnis wird der Weltmeister auftreten? Bisher ist es Löw noch immer gelungen, eine stabile Mannschaft an den Start zu bringen. Eine, die modern war, die spielerische Akzente setzte, eine, die in sich eins war und sich steigern konnte. Er hat dafür eine schöne Ansammlung gut bis herrlich veranlagter Spieler um sich herum. Jetzt muss er sie zum Laufen bringen, auf dass sie auf dem Platz auch gut zusammenspielen. Nur da liegt bekanntlich die Wahrheit.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false