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Die Mannschaft, die es zu schlagen gilt. Bisher haben das die Deutschen bei einem großen Turnier noch nicht geschafft.

© dpa

Deutschlands Halbfinalgegner: Italiener fürchten sich nicht

Wir halten die Italiener gerne für romantisch und impulsiv. Jedenfalls für eher weich als hart. In Wirklichkeit sind zumindest die Fußballer ziemlich kalte Hunde.

Italiener reizen zu Vorurteilen. Deutsche natürlich auch. Aber die Deutschen sind wir ja selbst, während die Italiener die anderen sind – ganz besonders am kommenden EM-Halbfinaldonnerstag, der hoffentlich kein schwarzer wird. Sondern ein schwarzweißer, bei dem die deutsche Nationalmannschaft, die seit vier Jahrzehnten gegen Italien nicht mehr entscheidend gewonnen hat, mit einem azurblauen Auge davonkommt.

Ausgerechnet gegen Deutschland spielen die Italiener immer ihre besten Spiele. Bisher wenigstens. Warum das so ist, von der halbfinalen Hitzeschlacht im Aztekenstadion 1970 in Mexiko City bis zur berühmt-berüchtigten Verlängerungsnacht von Dortmund 2006, kann niemand erklären. Aber dass Deutschland und Italien wechselweise eine besondere Beziehung haben, die auch zum herausfordernden Ansporn wird, das lässt sich polithistorisch und kulturgeschichtlich tausendfach belegen. Nur: Warum spielen die Italiener ihren calcio genannten Fußball im (italienischen) Glücksfall überhaupt so verdammt cool, diszipliniert, abgezockt, konzentriert?

Jetzt kommen die Vorurteile ins Spiel. Die meisten Deutschen, und nicht nur sie, halten die Italiener gerne für romantisch, anarchisch, impulsiv, individualistisch. Für eher weich als hart und hitzig statt cool. In Wirklichkeit aber sind die wegen all dieser vermeintlichen Eigenschaften so liebenswerten Italiener auch das: ziemlich kalte Hunde.

Zumindest die Fußballer. Torhüter Gianluigi „Gigi“ Buffon zum Beispiel, der Mann mit den phänomenalen Reflexen, 34 Jahre alt, ist im realen Leben tatsächlich ein Zocker und wirkt, wenn ihn etwas aufregt, wie ein brennendes Temperamentsbündel. Und hat doch, wenn es darauf ankommt, so zuletzt beim Elfmeterschießen, Nerven wie Eisen.

Nun könnte man einfach sagen, Stereotypen sind sowieso immer blöd. „Die“ Italiener oder „die“ Deutschen gibt es gar nicht. Schließlich sind wir ja auch nicht alle Sauerkrautesser oder wandernde Bierfässer. Und unsere Spieler keine martialischen Tanks, obwohl sie bis vor kurzem in der italienischen Presse gerne „i panzer“ genannt wurden. Angesichts von Özil, Khedira oder dem eleganten kleinen Lahm wird darauf inzwischen weitgehend verzichtet. Doch jetzt, im direkten Ernstfall, ist wohl wieder mit allem zu rechnen.

Andererseits, Klischees, die ja genau genommen Abziehbilder der Wirklichkeit sind, bergen meist ein Stück oder zumindest Stückchen Wahrheit. Also sind Italiener (nicht „die“ Italiener) oft starke Individualisten, sind heißblütig und nicht bloß cool, und ein paar von ihnen gehen sogar noch als Latin Lover durch. Trotzdem gibt es eine ganz andere Seite, die sofort die Widersprüchlichkeit angeblicher Nationalcharaktere zeigt. Italiener nämlich sind auch: kühle Rationalisten. Oder tiefe Melancholiker. Oder ganz unromantisch.

So etwas wie deutsche Gemütlichkeit ist den Italienern völlig fremd

Ob es hilft, Niccolò Machiavelli zu lesen, muss Bundestrainer Joachim Löw selbst entscheiden.
Ob es hilft, Niccolò Machiavelli zu lesen, muss Bundestrainer Joachim Löw selbst entscheiden.

© akg / De Agostini Picture Lib.

Nur ein paar Beispiele. Niccolò Machiavelli hat vor recht genau 500 Jahren seine Studie über den „Fürsten“ („Il principe“) verfasst, die ihm später die ideelle Urheberschaft für den politischen „Machiavellismus“ eingetragen hat. Auch das entspringt zwar einem Klischee, weil Machiavelli nicht nur klirrendes Machtkalkül, sondern durchaus auch herrscherliche Sitten und Tugenden fordert. Dennoch passt das Vorurteil zur italienischen Renaissance, die neben fortschrittlichen Stadtrepubliken und den höchsten Künsten der Architektur und Malerei in den sie fördernden Nobelfamilien der Medici, Sforza, Gonzaga oder Visconti immer wieder Meister der mörderischen Gewalt und Intrige hervorgebracht hat. Zugleich waren sie Repräsentanten der rationalsten, im Prinzip dann machiavellistischen Staatskunst.

Wer nur die venezianischen Gondoliere im Blick oder die singenden Caprifischer (eine übrigens deutsche Erfindung) im Ohr hat, der glaubt auch kaum, dass das italienische Gemüt viel tiefe Schwermut kennt. Michelangelo, Torquato Tasso oder Giacomo Leopardi (Italiens größter Lyriker), sie alle waren starke, untröstliche Melancholiker – und der italienische Film nach 1945 erwies sich in den neoveristischen und poetischen Bestzeiten der Antonioni, Rossellini oder Pasolini alles andere als heiter. Fellinis „Dolce Vita“ ist ein eher bitteres Werk. Verdi, obwohl weniger dunkel, hat ebenso wie Wagner vor allem musikalische Tragödien geschrieben. Und der italienische Schlager, die Volksmusik vom schmachtenden „O sole mio“ bis zu „Azzurro“, das wir von Adriano Celentano lieben?

Ja, gewiss. Die Italiener besingen immer wieder ihre Sonne und ihren nach eigener Einschätzung unvergleichlichen Himmel. Jenes Himmelsblau, das auch Italiens Fußballtrikot so schön schmückt und die Nationalelf zu den „azzurri“ macht. Aber genau diese Sonne sperren 90 Prozent aller Italiener 90 Prozent ihrer Lebenszeit von zu Hause aus. Selbst im Winter, wenn an einem sonnigen Tag endlich mal Licht und Wärme in die oft klammen Wohnungen der Stadtbewohner fallen würde, bleiben, weil es so schon la Mamma, der Papa, die Nonna (Oma) und der Nonno gemacht haben, die Fensterläden zugeklappt oder runtergelassen.

Individualisten? Nein, Traditionalisten. Wie in der Küche.

Und am Abend, wenn die Luken nicht mehr so dicht sind? Da leuchten in abertausenden Wohnungen zwischen Trient und Taormina nur immer die fahlen Deckenlampen. So etwas wie (deutsche) „Gemütlichkeit“ ist in Italien ein völliges Fremdwort. Und Anarchie und Wildwuchs? Man vergleiche nur mal einen blühend wuchernden englischen Garten mit dem geordneten, streng beschnittenen italienischen Grün. Kultur heißt da: Naturbeherrschung und Disziplinierung.

Noch mal, Individualisten? Nein, das Persönliche geht auf oder steht zurück in der Kleingruppe: der Familie, dem Verein, der engeren Region. Gegenüber jedem größeren Sozial- oder gar Staatswesen: da fühlt man sich dann nicht mehr so verantwortlich. Da erst gibt es plötzlich das Kollektiv – der Individualisten.

Aber weil „die“ Italiener ja eigentlich gar nicht existieren und Sammelzuschreibungen so richtig wie falsch sind, gibt es immer auch ein paar Millionen Ausnahmen. Genau wie beim Fußball. Die Mauertaktik des „catenaccio“ haben eigentlich die Schweizer erfunden und auch nicht alle Italiener gespielt. Und gegen die Deutschen haben sie, statt zu mauern, bislang doch ziemlich viele Tore geschossen. Also, schaun wir mal.

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