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Eine Befreiung: Torschütze Toni Kroos und Marco Reus feiern den Siegtreffer gegen Schweden.

© Ye Pingfan/AP/dpa

Wird jetzt alles gut für die Nationalmannschaft?: Toni Kroos und der Erweckungsmoment

Das DFB-Team hat auch gegen Schweden noch genügend Schwächen gezeigt, aber auf ihre mentale Stärke kann sich die Nationalmannschaft offenbar verlassen.

Die Doppelspitze in den blauen Hemden stürmte beherzt in den freien Raum, sie nutzte den günstigen Moment und ging entschlossen zum Angriff über. Aber dann machten die Schweden das, was sie auch im Spiel bis in die Nachspielzeit praktiziert hatten. Sie bauten eine massierte Abwehr auf. Es kam zu Rangeleien, die Männer in Blau wurden geschubst und bepöbelt, einer der beiden verließ den Infight mit nassem Hemd, weil ein Schwede den Inhalt seiner Trinkflasche auf ihn gespritzt hatte.

Bei den Angreifern handelte es sich um zwei Angehörige aus der Delegation der deutschen Nationalmannschaft. Uli Voigt, Mitarbeiter der Medienabteilung, und Georg Behlau, zuständig für alles Organisatorische, liefen direkt nach dem Schlusspfiff zur schwedischen Bank. Sie feierten so provokativ ausgelassen das späte 2:1, dass Schwedens Trainer Janne Andersson ihre Gesten als „ekelhaft“ empfand. Entsprechend aufgebracht reagierte er. Später am Abend suchten die beiden Provokateure des Deutschen Fußball-Bundes die schwedische Kabine auf und entschuldigten sich für ihr Verhalten.

Unabhängig von der moralischen Bewertung: Der Ausbruch nach dem Abpfiff sagte einiges über das, was sich seit dem deprimierenden 0:1 gegen Mexiko in der Nationalmannschaft angestaut hatte: an Druck, an Frust, an Wut auf alles und jeden. Das alles brach nach dem späten Treffer von Toni Kroos offen hervor. Im Positiven wie im Negativen. „Das Land steht hinter uns“, sagte Joshua Kimmich. „Aber die Presse ist kritisch.“

Manchmal hilft dieses Gefühl, sich gegen eine Welt von Feinden behaupten zu müssen, um sich des eigenen Selbstverständnisses zu vergewissern. Am Samstagabend aber brauchte die Nationalmannschaft diese psychologische Krücke allerdings gar nicht. Der Sieg an sich und vor allem sein Zustandekommen sollten eigentlich reichen, um das eigene Ego wieder aufzurichten. Nach Kroos’ formidablem Freistoßtreffer stürmte die komplette Bank zu ihm, der rekonvaleszente Mats Hummels in Freizeitkleidung vorneweg. „So wie wir am Schluss zusammen gefeiert haben, war das ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung“, sagte Kapitän Manuel Neuer. „Diesen Schwung müssen wir jetzt mitnehmen.“

Mit dem späten Siegtor hatten die Deutschen wieder zu sich selbst gefunden. Gary Lineker modifizierte schon kurz nach Spiel-Ende seinen „… und am Ende gewinnen die Deutschen“-Spruch und twitterte „Verdammte Hölle“. Auf Deutsch. Das Spiel gegen die Schweden war für die Nationalmannschaft die schwerste aller denkbar schweren Prüfungen; viel mehr Widerstände lassen sich kaum in gut 95 Minuten packen. Bundestrainer Joachim Löw empfand die Begegnung als „Krimi voller Emotionen“. Kein Wunder, dass die Spieler das 2:1 als kathartischen Moment erlebten. „Mir sind auf dem Platz fast schon die Tränen gekommen – weil es so geil war“, sagte Stürmer Timo Werner.

Joachim Löw: „Es war ein Sieg der Moral“

Die Deutschen hatten wie entfesselt begonnen, mit einem Tempo, das den Gegner überforderte. Doch nach dem ersten Ballverlust durch Antonio Rüdiger und der sich daraus ergebenden Konterchance der Schweden schwand das Selbstbewusstsein von Minute zu Minute. Spätestens mit dem 0:1 war davon nichts mehr vorhanden. Dieses Ergebnis hätte für den Weltmeister das Ausscheiden schon vor dem letzten Gruppenspiel bedeutet, und selbst wenn es nach dem Ausgleichstor durch Marco Reus beim 1:1 geblieben wäre, hätte es nur noch eine minimaltheoretische Chance aufs Weiterkommen gegeben. „Es war ein Sieg der Moral, des Nicht-Nachlassens und An-sich-Glaubens“, sagte Löw.

Bis zum befreienden Finale wurde dieser Glaube noch einige Male auf die Probe gestellt: Reus, Werner und Mario Gomez (gleich zwei Mal) vergaben klare Chancen, und als der eingewechselte Julian Brandt in der Nachspielzeit nur den Pfosten traf, war man geneigt, endgültig dem Fatalismus zu verfallen: Es soll halt nicht sein. „Richtig dran geglaubt habe ich auch nicht mehr“, bekannte Timo Werner. „So ehrlich kann man ja sein.“ Zumal die Deutschen die letzte Viertelstunde nach dem Platzverweis gegen Jerome Boateng in Unterzahl spielen mussten. „Es ist nicht selbstverständlich, das noch umzubiegen“, sagte Thomas Müller. „Das kann ein entscheidender Wendepunkt sein.“

Solche Gemeinschaftserlebnisse können in der Tat etwas in einer Mannschaft auslösen. „Das schweißt einen als Team zusammen, wenn man so spät den Siegtreffer erzielt“, sagte Sebastian Rudy. Vor 16 Jahren, bei der WM in Japan und Südkorea, gab es einen ähnlichen Erweckungsmoment. Im letzten Gruppenspiel gegen Kamerun durften die Deutschen nicht verlieren. Kurz vor der Pause sah Carsten Ramelow beim Stand von 0:0 Gelb-Rot, doch in Unterzahl gewann die Nationalmannschaft 2:0. Dieses Uns-kann-keiner-was-Gefühl brachte das Team allen spielerischen Defiziten zum Trotz am Ende sogar bis ins Finale.

„Die Mannschaft hat so ein Spiel vielleicht auch mal gebraucht“, sagte Bundestrainer Löw nach dem Sieg gegen Schweden. „Ich hoffe, dass uns das einen Schub gibt für das Turnier.“ Sein Team wird diese mentale Komponente brauchen, um die weiterhin vorhandenen Defizite zu überspielen.

Die defensive Stabilität fehlt der Mannschaft weiterhin

Denn das hat der Auftritt gegen Schweden eben auch gezeigt: Probleme gibt es immer noch genügend. Die defensive Stabilität fehlt der Mannschaft weiterhin. Dazu ist Löw bei der Suche nach einer Stammelf zwar einige Schritte weitergekommen; eine abschließende Lösung aber gibt es noch nicht. Boateng wird gegen Südkorea seine Sperre absitzen müssen. Immerhin ist ein Einsatz von Sebastian Rudy trotz gebrochener Nase nicht auszuschließen, und auch Mats Hummels könnte zurückkommen. Trotzdem bleiben Fragen: Was wird aus Sami Khedira und Mesut Özil? Wie lange setzt Löw noch auf Thomas Müller?

Wenn man die Auftritte von Belgien oder Kroatien bei dieser WM gesehen hat, muss man die Deutschen in ihrer aktuellen Verfassung noch nicht zwingend zu den großen Turnierfavoriten zählen. Aber Weltmeister wird man nicht durch herausragende Leistungen in der Vorrunde. „Möglich ist alles“, sagte Thomas Müller, „vom Worst Case bis zum Höchsten der Gefühle.“ Was sich wie eine Plattitüde anhörte, ist in Wirklichkeit eine perfekte Zustandsbeschreibung der Nationalmannschaft im Sommer 2018.

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