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Das Peloton fährt einen Berg hinauf.

© dpa

Die 100. Tour de France - Teil 1: Viel Leid, viel Held

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums blicken wir in einer dreiteiligen Serie zurück auf die Geschichte der Tour. Heute: Groß geworden ist die Tour de France vor allem als Sinnbild für die Strapazen des Lebens.

Am Samstag wird sich die 100. Tour de France in Bewegung setzen. Es gibt nur wenige Sportveranstaltungen, die so viele Menschen über so viele Jahre fasziniert haben wie die Tour. Doch so hoch die Radfahrer die Berge auch geklettert sind, so tief waren immer wieder die Abstürze – vor allem durch Dopingskandale. In einer dreiteiligen Serie wollen wir die Geschichte der Tour de France einordnen, ihre Bedeutung für die Kultur des Sports ebenso wie für die Unkultur des Betrugs.

Selbst wenn er abgelehnt wird, wächst der Mythos. „Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass ich noch einmal zu solchen Entbehrungen bereit bin“, sagte Bradley Wiggins dem britischen „Guardian“. Im Vorjahr hat Wiggins die Tour de France gewonnen, in diesem Jahr kann er verletzt nicht starten und sich den Strapazen aussetzen. Denn die Tour bedeutet Strapazen und deshalb steht sie stellvertretend für die Mühen, die das Leben an sich beinhaltet. Vor allem aus diesem Grund ist sie so groß geworden und findet in diesem Jahr zum einhundertsten Mal statt, nur die beiden Weltkriege konnten sie zeitweise stoppen. Ihre Bedeutung ist seit ihrer Gründung durch einen nach Trümpfen im Konkurrenzkampf suchenden Zeitungsverleger 1903 eng geknüpft an die Erzählung von den Leiden der Ritter der Landstraße.

Diese Geschichten waren immer stärker als jene der Fahrer, die beim ersten Etappenrennen der Radsport-Geschichte unterwegs auch mal in die Eisenbahn stiegen, um das Ziel zu erreichen. Auch wenn der Begriff erst später dazukam: Doping gibt es schon immer. In den zwanziger Jahren präsentierten die Fahrer stolz ihre Cocktails aus Strychnin, Koffein, Kokain und Alkohol, erst seit den sechziger Jahren gibt es offizielle Verbote. Die erste Touretappe war 467 Kilometer lang, der Sieger brauchte fast 18 Stunden.

Von Anfang an liebten die Fans aber auch jene Fahrer, die scheiterten – wie der ewige Zweite Raymond Poulidor. Er hat die Tour nie gewonnen, ist aber bis heute eine Legende in Frankreich. Ein tragischer Verlierer ist eben auch eine große literarische Figur und die Tour sogar mit der ganz großen Dichtung vergleichbar. „Wie in der Odyssee ist das Rennen zugleich eine Rundreise mit Prüfungen und eine vollständige Erforschung der irdischen Grenzen“, schreibt der französische Soziologe Roland Barthes Ende der fünfziger Jahre.

Das Radio hatte großen erfolg mit Reprotagen direkt vom Rennen

Da ist es schon ein paar Jahre her, dass das französische Fernsehen zum ersten Mal eine Liveschaltung unter freiem Himmel versucht hat, um an dem Erfolg teilzuhaben, den das Radio mit seinen Reportagen direkt vom Rennen und die Zeitungen mit allen denkbaren Ausdrucksformen von Leitartikeln bis hin zu Karikaturen haben. So richtig international verbreitet wird der Mythos aber erst durch die Hubschrauberkamera.

Helden gibt es in allen Volkssagen mit ihren Eigenschaften wie Opferbereitschaft, übermenschlichen Kräften oder Kampf über die Erschöpfung hinweg. Die Geschichte Frankreichs kann in den langen Übertragungen aber nun bestens in mundgerechten Teilen zum Empfängerland passend als Bildungsreise erzählt werden. Während der Etappen der „Grande Boucle“, der „Großen Schleife“, um das ganze Land bleibt den Kommentatoren zum Beispiel in Deutschland viel Zeit für mehr oder weniger gelungene Exkurse über die aus Kräutern der Region gebrannten Schnäpse und die Chateaux, die am Rand der Strecke liebevoll erhalten werden. Eine große Rolle spielt auch die Motorradkamera. Mit ihrer Hilfe kann der Zuschauer am Gesicht des Helden ablesen, welche Qualen er durchleidet, während er sich den Berg hocharbeitet.

Überhaupt die Berge. Sie gehören nach der Gründung der Tour schnell zum Programm, mehr Leid bedeutet auch größere Helden. Der Col du Tourmalet und der Col d’Aubisque standen im Laufe der Jahre am häufigsten auf dem Programm, ihre Namen zählen wie Mont Ventoux zu den Codewörtern, die man benutzen muss, um große Kinderaugen bei Erwachsenen zu sehen; unter Freizeitfahrern ist es so wichtig, eine dieser Etappen einmal bewältigt zu haben, wie für andere die Besteigung des Mount Everest. Ein Mythos wird auch mündlich überliefert, und genauso wie von Erzählung zu Erzählung ändert er sich oft auch mit der Zeit, Jüngeren ist eher der spektakuläre Anstieg nach L’Alpe d’Huez mit seinen Spitzkehren ein Begriff.

Wenn überhaupt, denn das Publikum beim wandernden französischen Nationalfeiertag altert. Der Enkel geht nur mit seinem Opa mit, um bei den Wurfpräsenten der dem Feld voranfahrenden Werbekarawane etwas abzugreifen, ohne diesen Karnevalsumzug ist die Tour mit dem in Sekundenschnelle vorbeirauschenden Fahrerfeld nicht denkbar.

Aber auch mancher Radprofi freut sich trotz aller Anstrengungen noch wie ein Kind. „Yippieh! Nummer 16 ich komme“ platzte es aus Jens Voigt in der vergangenen Woche heraus, als er für die am kommenden Samstag beginnende Tour nominiert wurde. Voigt hat sein Image als tapferer, aber meist chancenloser Ausreißer im Laufe der Jahre – man kann sagen trotz seiner Etappensiege und Gelben Trikots – kultiviert und sich auch durch einen schweren Sturz 2009 (Leiden!) nicht von seiner Rolle abbringen lassen. Der bald 42-Jährige hat seit seiner ersten Frankreich-Rundfahrt viele Skandale miterlebt und gleichzeitig seinen Platz im ewig rollenden Kosmos Tour de France gefunden. „In Wirklichkeit kennt die Dynamik der Tour nur vier Bewegungen“, schreibt Roland Barthes. „Führen, Verfolgen, Ausreißen, Eingehen.“

Voigt hatte nie etwas mit dem jedes Jahr aufs Neue inszenierten Duell um den Gesamtsieg zu tun, nach dem Ende der durch ihre Dopinggeständnisse im Nachhinein entwerteten Ära Armstrong/Ullrich fehlen hier auch ein wenig die werbewirksamen Kontrahenten. Jens Voigt ist trotzdem Teil des Mythos.

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