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Sport: Die Antwort auf die Torwartfrage

Ein logisch-psychologischer Beweis dafür, dass sich Klinsmann längst für Lehmann entschieden hat

Menschen lieben solche Fragen: Was war zuerst da, Huhn oder Ei? Was schmeckt besser, Raider oder Twix? Wer ist charismatischer, Frank Steffel oder Friedbert Pflüger? Weil jeder weiß, dass am Ende nichts Entscheidendes von ihrer Beantwortung abhängt, öffnen sie einen unendlichen Gesprächsraum, in dem sich die Fantasie tummeln und der Verstand schärfen kann. So auch im Fall der Frage, wer zur WM wohl das deutsche Tor hüten wird: Kahn oder Lehmann?

Vermutlich wird man es Jürgen Klinsmann eines Tages als eigentlichen Geniestreich seiner Amtszeit auslegen, die Republik gut zwei Monate mit einer Kontroverse beschäftigt zu haben, deren einziger Sinn und Zweck darin besteht, von den eigentlichen Fragen abzulenken. Problemen wie: Wer spielt eigentlich in der Abwehr? Wer im Mittelfeld? Wer im Sturm?

Jedenfalls ist nicht zu erkennen, weshalb dem Bundestrainer an einer zügigen Auflösung des Torwarträtsels gelegen sein sollte. Bis zum heutigen Tag hat sich Klinsmann in dieser Frage lediglich auf zwei Dinge festgelegt. Erstens: Er wird sich mit der Entscheidung noch Zeit lassen, möglicherweise gar bis zum offiziellen Nominierungstermin am 15. Mai. Zweitens: Der konkrete Zeitpunkt seiner Entscheidung soll für alle Betroffenen überraschend kommen.

Die nationale Bedeutung des Problems erfordert es, diese Thriller-Konstellation der „überraschenden Torwartnominierung“ noch einmal ganz genau, also mit den Mitteln der Logik, zu analysieren. Sollte etwa am 14. Mai noch immer keine Entscheidung getroffen sein, ist mit absoluter Sicherheit vorauszusagen, dass Klinsmann sie am 15.Mai vermeldet – und so leicht wird es der Bundestrainer sicher niemandem machen. Dieser Tag scheidet also aus. Aber auch der 14. Mai ist tabu, weil für diesen Fall ja bereits am 13. Mai in Sachen Termin alles klar wäre, womit das Geheimnis allerspätestens am drittletzten Tag der Frist gelüftet werden könnte, was aber wiederum nicht geht, weil dann ja bereits am viertletzten Tag …

So lässt sich also konsequent ein Tag nach dem anderen aus dem Fußballkalender streichen, bis der mündige Fan am Frühstückstisch irgendwann glasklar erkennt, dass es den Klinsmann’schen Tag der „überraschenden Verkündigung“ aus logischen Gründen gar nicht geben kann und also auch nicht geben wird. Mit anderen Worten: Der Bundestrainer führt uns an der Nase herum, seine Entscheidung steht in Wahrheit längst fest.

Gefallen ist die Torwartentscheidung also, aber für wen? An diesem Punkt gilt es, von der Logik direkt zur Psycho-Logik zu wechseln, vor allem aber rein fußballerische Erwägungen außer Acht zu lassen. Wer sich anlässlich der deutschen Torwartfrage in detailgenaue Leistungsabwägungen verspinnt, läuft damit direkt in Klinsmanns perfekt inszenierte Ablenkungsfalle. Vielmehr gilt es sich zu vergegenwärtigen, welchen Attraktionswert eine mannigfach angreifbare, kontraintuitive, überraschende und vor allem medientechnisch denkbar riskante Personalentscheidung auf eine Ausreißer-Psyche wie die von Jürgen Klinsmann ausübt. Dann wird unzweifelhaft klar, dass an Jens Lehmann als Deutschlands neuer Nummer 1 kein Weg mehr vorbeiführt.

Eine Entscheidung gegen Oliver Kahn, das bedeutet in Deutschland: gegen die „Bild“-Zeitung, gegen Franz Beckenbauer, gegen den FC Bayern, gegen das Votum von Kapitän Michael Ballack, gegen die Klientel der Traditionsfans, gegen die öffentliche Erwartung im In- und Ausland und gegen die Fans im Münchner Eröffnungsspiel. Mehr Feinde lassen sich mit einer Aktion nicht schaffen, es ist die Klinsmann-Entscheidung an sich. Und es ist eine Entscheidung, die Reformheld Klinsmann eine letzte und entscheidende Profilschärfung verleiht. Die Wahl pro Lehmann suggeriert Mut, höchste Souveränität und totale Unabhängigkeit. Sportlich ist sie ohne erkennbares Risiko, und die weitere berufliche Zukunft des Trainers, so denn angestrebt, hängt ohnehin nur vom Ausgang des Turniers und also anderen ungelösten Problemen ab, insbesondere von solchen in der Abwehr, im Mittelfeld und im Sturm.

Aber davon wird erst viel später in den Zeitungen zu lesen und zu klagen sein. Irgendwann im Zeitraum nach dem 9. Juni 2006 und vor dem 9. Juli 2006. Wann genau, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt übrigens weder mit logischen noch mit psychologischen Mitteln voraussagen. So ist der Fußball nun einmal.

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