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Sport: Die Dekadenz des Roten Reiches

"Wer Englischer Meister werden will, darf in der ganzen Saison maximal sechs Spiele verlieren. Nach dieser fünften Niederlage haben wir es uns verdammt schwer gemacht.

"Wer Englischer Meister werden will, darf in der ganzen Saison maximal sechs Spiele verlieren. Nach dieser fünften Niederlage haben wir es uns verdammt schwer gemacht." Das sagte Sir Alex Ferguson nach dem 0:3 gegen den FC Chelsea. Eine Woche später verlor sein Klub Manchester United gegen die noch bescheideneren Londoner von West Ham United. Hat sich die Hoffnung auf einen vierten Titel in vier Jahren der zwischenzeitlich besten Fußballmannschaft Europas also schon zerschlagen? Hat gar der Verfall des Roten Reiches begonnen - trotz einiger Siege, die United zuletzt gegen schwächere Teams gelangen? Das ist eine der großen Geschichten des abgelaufenen Jahres. Und da kann man schon mal etwas weiter ausholen.

Bei Historikern ist nachzulesen, wie, wann und warum Reiche verfallen. Eins ist sicher: Entgegen allem Anschein passiert es meistens nicht von einem Tag auf den anderen. Beim British Empire fehlte sowohl eine adäquate Selbstfinanzierung des auseinander fallenden Großreiches als auch der Wille der Briten selber, Zeit und Energie in ihre überseeischen Kolonien zu investieren. In seiner monumentalen und in England seit dem 18. Jahrhundert so beliebten mehrbändigen Abhandlung "The Decline and Fall of the Roman Empire" führt Edward Gibbon den Untergang der Römer auf drei Hauptsünden zurück: Über-Expansion, Dekadenz, und - andere Zeiten, andere Sitten - eine Abneigung gegen das Christentum. Im Falle des reichsten Vereins der Welt kann der Niedergang keine Frage des Geldes sein. Abwegig sind die anderen Faktoren aber nicht.

Der fehlende Wille: Seine Vorherrschaft über den englischen Fußball in der letzten Dekade verdankte Manchester United seinem eigenen Nachwuchs - Spielern wie Scholes, Beckham, Butt und den Brüdern Neville, die (bis auf den Londoner Beckham) alle im Schatten ihrer spirituellen Heimat Old Trafford aufgewachsen sind. Anständige, ehrliche Jungen alle, die nach wie vor ohne die geringste Spur von Ironie den Teamchef "Boss" nennen. Die Jungs sind noch da, aber den Kern der Mannschaft bilden sie nicht mehr. Das Rückgrat des Teams besteht jetzt aus zugereisten Spielern: (von hinten nach vorne) Torwart Barthez, Verteidiger Blanc, Spielmacher Veron und Stürmer van Nistelrooy. Ohne Frage eine hochkarätige Liste, aber die kollektive Einsatzbereitschaft fehlt zuweilen.

Über-Expansion: Mit irischer Weisheit hat George Best, der legendäre Manchester-Spieler der 60er Jahre, die Krise seines ehemaligen Vereins kommentiert: "Alex Fergusons Fehler besteht darin, dass er versucht hat, etwas zu reparieren, was gar nicht kaputt war." Veron, wie er nächsten Sommer der Welt sicherlich beweisen wird, ist Weltklasse. Um ihn in die Mannschaft einzubauen, hat Ferguson aber seine wohlvertraute Mittelfeldkette - Beckham, Scholes, Giggs und Keane - auseinander nehmen müssen. Scholes, der für die Nationalelf eine eher offensive Rolle spielt und ab und zu mal Tore schießt, fühlt sich im Loch hinter den Spitzen offensichtlich nicht so wohl, während Kapitän Keane sich im allgemeinen Mittelfeldstau nicht mehr behaupten kann. Noch schlimmer: Die seltsam entfremdeten alten Stammspieler scheinen jetzt den anfangs brillanten Veron angesteckt zu haben.

Dekadenz: Fragt man Ferguson nach seinen Wurzeln, bekennt er sich immer stolz zu Govan, einem Arbeiterviertel in Glasgow. Mit dem Versace-Lifestyle von David Beckham kann er natürlich nichts anfangen. Während Ferguson sich ein paar Reitpferde gönnt (die typische Selbstinszenierung des sportlichen Selfmademan auf den Inseln), fährt Beckham nach London, um 1000 Mark für einen Bürstenschnitt auszugeben, den andere für 25 Mark verpasst bekommen. Als Retter der Nationalelf beim letzten WM-Qualifikationsspiel ist Fergusons Sorgenkind mit Recht hoch gelobt worden. Aber seitdem hat er keine große Leistung mehr gebracht für seinen eigentlichen Arbeitgeber. Der neue Vertrag bleibt immer noch ununterschrieben, und Ferguson ließ Beckham eine Zeit lang auf der Bank und lässt ihn erst jetzt wieder zum Zuge kommen.

Abneigung gegen das Christentum: Dass Ferguson keinen Gott neben sich duldet, macht das neueste Debakel mit Jaap Stam deutlich wie nie zuvor. Nach dem Erscheinen seiner Biographie, in der milde Kritik gegen den Chef und einige Mitspieler geübt wurde, befand sich der holländische Nationalspieler im nächsten Flieger nach Italien. Dass die Jünger an ein Leben nach Ferguson nicht glaubten, war nicht so voraussehbar. Mit der Ankündigung seines Rücktritts am Ende der Saison hat Ferguson - so Sportpsychologen - einen großen Fehler gemacht. Statt sich vor dem Chef fürchten, der über den Verein mit der Strenge eines alttestamentlichen Gottes herrschte, schweifen die Gedanken der Spieler schon in eine Zukunft, wo alle vertrauten Sicherheiten nicht mehr so sicher aussehen.

Als Abschiedsgeschenk wünscht sich Ferguson die Champions League, deren Finale im Mai in seinem geliebten Glasgow stattfindet. Nach dem Unentschieden in München und einem bequemen Sieg gegen die Portugiesen von Boavista sieht es gar nicht so schlecht aus für die Roten in Europa. Der endgültige Verfall wird also erst einsetzen, wenn United sowohl auf den Inseln als auch innerhalb der kontinentalen Grenzen des alten Römischen Reiches versagt.

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