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Sport: Die Farbe: Egal

Nach dramatischem Finish und Protesten freut sich Kirsten Bolm über EM-Silber über 100 Meter Hürden

Die Laufbahn wurde zum Warteraum. Kirsten Bolm saß mit der Irin Derval O’Rourke auf dem roten Kunststoff und schaute zur Anzeigetafel. Eben waren sie noch nebeneinander hergerannt, jetzt bildeten sie eine kleine Schicksalsgemeinschaft und fielen sich gleich mehrfach um den Hals. Nahezu zeitgleich hatten beide das Ziel nach 100 Metern über die Hürden bei den Europameisterschaften in Göteborg erreicht. Der erste Platz war schon vergeben an Susanna Kallur, die sich längst mit der schwedischen Fahne auf die Ehrenrunde begeben hatte. Kurz zuckte auf der Anzeigetafel Bolms Name und Platz zwei auf, um dann gleich wieder zu verschwinden. Es vergingen weitere Momente, in denen Bolm und O’Rourke aneinander gelehnt auf das Ergebnis warteten. „Wir saßen völlig ratlos da, jeder konnte genau nachempfinden, was der andere fühlt. Es war schön, nicht alleine zu sein“, erzählte Bolm später. Dann erschien die Gewissheit: Die beiden waren zwar auf die Hundertstelsekunde gleich angekommen, nach 12,72 Sekunden, doch die Irin war auf einem Zielfoto vorne.

Gewissheit? Der deutschen Mannschaftsleitung war diese Entscheidung nicht einsichtig. Sie legte Protest ein. Die verschiedenen Zielfotos ließen unterschiedliche Schlüsse zu, lautete die Begründung. Die erste Wahrnehmung von Bolms Trainer Rüdiger Harksen war diese: „Die Irin hat einen besonders langen Hals gemacht und ist fast ins Ziel getaucht, Kirsten ist etwas aufrechter gelaufen.“ Er wolle sich die Fotos auf jeden Fall noch einmal ansehen. Auch die Iren sahen O’Rourke nicht alleine vorne und schlugen vor, zwei Silbermedaillen zu verteilen. Und darauf lief die Entscheidung schließlich auch hinaus.

Als sie noch nichts von dem Protest wusste und auf Silber nicht hoffen durfte, strahlte Bolm schon: „Ich bin überglücklich mit Bronze. In dem Moment auf der Bahn hatte ich schon Panik, dass ich gar keine Medaille bekommen würde.“ Es ist schließlich ihre erste bei einer großen Meisterschaft. Im vergangenen Jahr bei der WM in Helsinki war sie nur ganz knapp hinterhergelaufen und Vierte geworden. Die Irin erzählte: „Ich habe die ganze Zeit gedacht, dass Kirsten vorne ist, ich habe mich ihr so verbunden gefühlt.“

Die Szenen nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis widerlegten, dass Sprinterinnen eigentlich als eigensinnige Sportlerinnen gelten. Bolm nahm O’Rourke sogar an die Hand und lief zusammen mit ihr an den Zuschauern vorbei. „Vor allem mit den europäischen Sprinterinnen hat man ein gutes Verhältnis“, sagt Bolm. Allenfalls ein paar Amerikanerinnen fielen ihr unangenehm auf. „Die grüße ich dann auch nicht.“ Mit der Schwedin Susanna Kallur hat sie bei einem Meeting sogar einmal das Zimmer geteilt. Kallur war die Hauptdarstellerin dieses Rennens. 12,59 Sekunden war ihre Siegeszeit. Die 40 000 Zuschauer im Ullevi-Stadion jubelten aber schon vor dem Startschuss begeistert. „Die haben so einen Krach gemacht, das ganze Stadion hat gebebt. Ich habe schon befürchtet, dass mein Name ganz untergeht“, erzählte Bolm. Sie wurde direkt nach Kallur aufgerufen, weil sie eine Bahn neben ihr lief. „Aber ich habe mich davon, glaube ich, nicht beeindrucken lassen.“

Als in der deutschen Leichtathletik zwischendurch einmal der Jugendwahn ausgebrochen war, galt die inzwischen 31 Jahre alte Kirsten Bolm schon als überaltert. Seit ihrem vierten Platz von Helsinki ist sie jedoch in der Nationalmannschaft eine feste Größe. „Man muss in der Leichtathletik immer von der Hand in den Mund leben. Man weiß nie, ob man noch mal eine Chance bekommt, weil man sich verletzt“, sagt sie. Ihre Chance auf eine Medaille kam jetzt in Göteborg und sie hat sie genutzt.

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Aus der schwedischen Nacht von Göteborg, die Susanna Kallur eröffnet hatte, wurde dann völlig unerwartet für die Zuschauer eine belgische. Innerhalb von wenigen Minuten entthronte zunächst die Hochspringerin Tia Hellebaut die große Favoritin und Titelverteidigerin Kajsa Bergqvist aus Schweden, und dann rannte Kim Gevaert zwei Tage nach ihrem 100-m-Triumph in 22,68 Sekunden auch zum Gold über 200 Meter. Es war die größte Stunde in der Geschichte der belgischen Frauen-Leichtathletik.

Im Hochsprung sah es so lange nach einem Sieg der Weltmeisterin Kajsa Bergqvist aus, bis die Schwedin bei 2,03 Meter im ersten Versuch die Latte riss. Die 28-jährige Tia Hellebaut sprang diese Höhe dagegen auf Anhieb. Mit einer Steigerung ihrer persönlichen Bestleistung um drei Zentimeter sicherte sie sich das Gold, während Kajsa Bergqvists Spekulation nicht aufging. Sie hob ihre restlichen beiden Versuche für 2,05 Meter auf, riss diese jedoch zur Enttäuschung der Zuschauer jeweils knapp. Damit blieb ihr hinter Wenelina Wenewa (Bulgarien/2,03) mit 2,01 Meter nur Bronze statt des erhofften nächsten Goldes für Schweden. „Ich kann noch gar nicht glauben, was hier passiert ist“ sagte Hellebaut, die rhythmisch mitklatschte, als Bergqvist sich an 2,05 Meter versuchte. „Dass ich die Goldmedaille habe, kommt mir fast fremd vor. Es tut mir ein bisschen leid für Kajsa. Danach habe ich hinter dem Ziel auf Kim gewartet und gehofft, dass sie auch gewinnt.“ Der belgische Traum von Göteborg erfüllte sich, und eine große Nationalflagge vereinte die beiden Siegerinnen.

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Ersatzmann wäre fast eine Beleidigung für Pascal Behrenbruch. Als Nachrücker für den verletzten André Niklaus war er mit nach Göteborg gefahren und bestritt dort seinen bisher besten Zehnkampf. Die Vertreterrolle legte er jedenfalls schnell ab und wurde am Ende mit 8209 Punkten Fünfter. Stefan Drews von Bayer Leverkusen kam mit 8105 Punkten auf Platz sieben. Den Titel konnte der Tscheche Roman Sebrle mit 8526 Punkten erfolgreich verteidigen.

Behrenbruch war schon beim Mehrkampfmeeting in Ratingen auf Platz fünf gelandet. Diesmal war sogar noch etwas mehr drin für den 21 Jahre alten Offenbacher: „Nach dem Speerwerfen wollte ich noch mal versuchen, eine Medaille zu holen. Aber im 1500-Meter-Lauf haben meine Beine nicht mehr mitgemacht.“

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