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Sport: Die Kopie wird ein Original

Jahrelang gab Jens Lehmann den Oliver Kahn. Nun hat er sich von seinem Kontrahenten emanzipiert – und ist die Nummer eins

Im „Base“, einem kleinen Café an der High Street in Hampstead, ist gut sein. Fredrik Ljungberg kommt schon mal vorbei, Thierry Henry nimmt ab und an Platz, auch Sol Campbell trinkt hier gerne Kaffee. Hampstead im Norden Londons ist so etwas wie der bevorzugte Aufenthaltsraum der Stars des FC Arsenal. Und der vom FC Chelsea auch, Didier Drogba und Michael Essien speisen ebenfalls gerne im „Base“. Ach so ja, Jens Lehmann schaut auch öfter rein, hier, in das Wohnzimmer des Londoner Fußballs, das inzwischen so etwas wie der Treffpunkt der fußballerischen Welt ist. Lehmann erzählt das sehr beiläufig, wer so alles mit ihm sein Stammbistro teilt, die Botschaft kommt dennoch an: Hier spielt der große Fußball, und ich, Jens Lehmann, 36, gebürtig in Essen-Heisingen, spiele mit.

Die Fortsetzung der Botschaft muss man sich allerdings dann selber denken: Hier spielt der große Fußball – und nicht irgendwo in München-Harlaching. Aber das wird Jens Lehmann natürlich nicht aussprechen. Er spricht brave Sachen aus, diplomatisch, solche Sätze: „Einige Jahre habe ich von diesem Konkurrenzkampf sicherlich profitiert. Das wird mich auch stärker gemacht haben. Aber seit ein, zwei Jahren habe ich dieses Gefühl nicht mehr. Den Grund dafür kann ich Ihnen gar nicht so richtig nennen.“ Und dabei schaut er sein Gegenüber an – nicht nur das unterscheidet ihn von seinem Rivalen Oliver Kahn –, direkt in die Augen, er lächelt dabei freundlich – auch das unterscheidet ihn von seinem Rivalen – und wenn man will, dann kann man in diesen Augen lesen: „Ich weiß genau, du glaubst mir kein Wort. Und das ist auch richtig so.“ Dann ahnt man, dass Lehmann den Grund für seine Gelassenheit sehr wohl kennt, und der Grund ist der, dass er sich mit Kahn gar nicht mehr misst, dass er sich Kahn längst enteilt fühlt, dass er Kahn in einer anderen Liga sieht, in irgendeiner unterklassigen nämlich.

Das war nicht immer so. Es gab Zeiten, da gab Lehmann den Kahn. Da platzte er vor Ehrgeiz, giftete gegen den Konkurrenten, gab sich arrogant, unnahbar, besessen. Das war, als er in Schalke spielte. Dann spielte er in Dortmund, platzte vor Ehrgeiz, gab sich arrogant, das ganze Programm, rastete aus und kopierte Kahn. Schlecht allerdings. Auf dem Höhepunkt der dürftigen Imitation trat er im Frühjahr 2002 den am Boden liegenden Freiburger Coulibaly – das Original hatte Chapuisat nur fast getreten, Herrlich nur fast ein Ohr abgebissen und Klose nur fast in der Nase gepopelt. Was hätte Lehmann zu diesem Zeitpunkt Fußball-Deutschland geben können? Einen Kahn hatte es schon. Noch einen, der nach der Devise auftritt, wonach Torhüter per se unzurechnungsfähig sind, brauchte es nicht.

Es ist nichts mehr davon geblieben, nichts mehr zu spüren von der angeblichen Schizophrenie eines Mannes, der nach Abpfiff umgänglich ist und nach Anpfiff unerträglich. Jens Lehmann sitzt im „Base“, entspannt und doch konzentriert, er schottet sich nicht ab, spult Antworten auf Fragen nicht gestanzt ab, er sucht das Gespräch, stellt Gegenfragen, ist interessiert, nicht lauernd, aber aufmerksam. Kann man seine Spielweise nicht genauso beschreiben? Konzentration, Anteilnahme am Spiel der Vorderleute, Aufmerksamkeit – das sind doch die Dinge, die ihn nun zur Nummer eins gemacht haben.

Arsenal, sein Klub, und London, seine derzeitige Heimat, haben ihm offensichtlich gut getan. Er muss sich nicht mehr verstecken, nicht hinter irgendwelchen vermeintlichen Aggressionen, nicht hinter Plattitüden. Hofft man auf der Ersatzbank nicht auf einen 4:3-Sieg, einen Sieg für die eigene Mannschaft und drei schwere Patzer vom Konkurrenten? Mutmaßlich 99 Prozent aller Torhüter würden diese Frage entrüstet zurückweisen, Kahn wohl auch, Lehmann sagt: „Sie werden mir hier über mein Innenleben nicht viel entlocken.“ Und sagt damit sehr unangreifbar, dass man auf der Ersatzbank genau auf ein 4:3 hofft.

Es waren in letzter Zeit keine Pfeile mehr von der Insel aus nach München geflogen. Vor Wochen sagte Lehmann, dass er seit seinem Einsatz im Länderspiel gegen Frankreich im November des vorigen Jahres Indizien gespürt habe, dass sich Bundestrainer Klinsmann für ihn entscheiden würde. Man darf vermuten, dass die Spekulationen nun einsetzen: Hat Klinsmann damals schon etwas gesagt? Wusste Lehmann schon so lange, was nun alle wissen? War er nicht deshalb so gelassen, weil er nichts mehr zu fürchten hatte? Vielleicht ist Letzteres sogar wahr. Jens Lehmann hatte den Oliver Kahn eben nicht mehr zu fürchten, er musste ihn nicht mehr nachmachen, er musste nur noch Jens Lehmann sein. Das reichte.

Und wahrscheinlich ist es auch die große Stadt, die Weltstadt, die ihn hat Abstand nehmen lassen von der Kunstwelt, in der deutsche Profis sich oft bewegen. Nach dem Treffen im „Base“ müsse er noch einkaufen gehen – man stelle sich Oliver Kahn an der Kasse vor, mit einem Pfund Butter und einem Kilo Kartoffeln in der Hand, nein, das kann man sich nicht vorstellen. „In London wohnen Stars“, sagt Lehmann, „echte Stars, Paul McCartney wohnt hier, Madonna, also, wir sind Fußballspieler.“ Möglicherweise würde Oliver Kahn von diesen Relationen auch reden. Reden, aber dann doch lieber ohne Butter und Kartoffeln ins Münchner P 1 gehen und dort den dicken Maxe machen.

Gleich um die Ecke des „Base“ liegt der Primrose Park, und darin der Primrose Hill. „Die Kinder spielen da immer Fußball“, sagt Lehmann, „man steht ganz oben, man schaut auf ganz London hinunter, man hat den Überblick.“ Deswegen ist Jens Lehmann nun die Nummer eins.

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