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Sport: Die Leichtathletik muß aufhören, eine Saisonsportart zu sein

PRIMO NEBIOLO leitet seit 1981 die Geschicke des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF als Präsident.Der Jurist ist Vorsitzender des Welt-Studentensports (FISU), Präsident der Vereinigung olympischer Sommersportarten (ASOIF), Mitglied des IOC - alles in allem einer der wichtigsten Männer im Weltsport.

PRIMO NEBIOLO leitet seit 1981 die Geschicke des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF als Präsident.Der Jurist ist Vorsitzender des Welt-Studentensports (FISU), Präsident der Vereinigung olympischer Sommersportarten (ASOIF), Mitglied des IOC - alles in allem einer der wichtigsten Männer im Weltsport.Ernst Podeswa führte mit dem 75jährigen Römer das folgende Interview.

TAGESSPIEGEL: Herr Nebiolo, was hat Sie bewogen, der Einladung des DLV nach Berlin Folge zu leisten?

NEBIOLO: Es ist für mich eine Ehre, das 100jährige Jubiläum des Deutschen Leichtathletik-Verbandes persönlich miterleben zu dürfen.Die Geschichte unseres Sports ist eng mit der deutschen Sportgeschichte verbunden, nicht nur auf Grund der vielen großen Champions aus Ihrem Land, sondern auch wegen der wichtigen Beiträge deutscher Wissenschaftler, Trainer und Sportfunktionäre zur Leichtathletik insgesamt.

TAGESSPIEGEL: Wenn Sie die letzten zehn Jahre rekapitulieren - womit war der DLV ein positiver und wodurch ein eher unangenehmer Partner?

NEBIOLO: In den letzten zehn Jahren hat es einen tiefgreifenden Wandel gegeben, nicht nur für den Verband, sondern auch für das ganze deutsche Volk.Was unseren Sport betrifft, ist die Neustrukturierung der deutschen Leichtathletik von entscheidender Bedeutung.Man kann sich unseren Sport ohne den Beitrag Deutschlands überhaupt nicht vorstellen.Der deutsche Verband ist für mich nie ein schwieriger Partner gewesen, im Gegenteil, ich habe immer die neuen Ideen zu schätzen gewußt, die deutsche Funktionäre zu unserer Bewegung beigetragen haben, insbesondere die Loyalität, Intelligenz und Begeisterung des Präsidenten Helmut Digel.

TAGESSPIEGEL: In jüngster Zeit hat die deutsche Leichtathletik zunehmend Probleme - Mitgliederrückgang, bei Sportfesten unterhalb der Golden League und in der nationalen Fernsehpräsenz.Sind das speziell nur deutsche Sorgen?

NEBIOLO: Leichtathletik ist ein besonders schöner Sport, der völlige Hingabe erfordert.Die heutige Jugend begeistert sich vielleicht nicht so sehr für Mühe und Disziplin.Aber es gibt ein anderes Problem, und zwar die übergroße Macht des Fernsehens und eine Besessenheit der TV-Zuschauer: Fußball monopolisiert den Bildschirm.Das ist das Problem nicht nur für die Leichtathletik, sondern für alle anderen Sportarten.Ich würde sogar sagen, daß die Leichtathletik die Sache noch gut im Griff hat.Unsere Weltmeisterschaften letztes Jahr hatten ausgezeichnete Einschaltquoten, es haben weltweit 3,8 Milliarden Menschen zugeschaut.Und wir sollten den großen Erfolg der Weltmeisterschaften in Stuttgart 1993 nicht vergessen, mit einem großen, begeisterten Publikum, 600 000 Zuschauern an acht Wettampftagen.Wie kann man angesichts solcher Zahlen von einer Krise sprechen?

TAGESSPIEGEL: Welche Strategie hat die IAAF, um im globalen Kampf der Sportarten nicht an Boden zu verlieren?

NEBIOLO: Ich weiß, daß wir jeden Tag um unseren Anteil an einem Sportmarkt kämpfen müssen, der immer komplizierter und härter wird.Um ihre Stellung zu behaupten, muß die Leichtathletik über das ganze Jahr eine Show bieten und aufhören, ein Saisonsport zu sein.Deshalb haben wir die Weltmeisterschaften und die Hallen-WM ins Leben gerufen, Halbmarathon-WM, die Geher-WM, die Straßenstaffel-WM, die Cross-WM, den Leichtathletik-Weltcup und die Junioren-Weltmeisterschaft.Um die ganz jungen Athleten anzuziehen, bevor sie von den anderen Sportarten weggeschnappt werden, werden wir im nächsten Jahr zum ersten Mal in Polen die IAAF-Jugend-WM veranstalten, in der Kategorie U 18.Die Grand-Prix-Tour gibt es schon seit ein paar Jahren, und jetzt haben wir die Golden League gestartet.Das Ziel ist es, vom nächsten Jahr an, wie wir hoffen, eine wöchentliche TV-Begegnung mit der Leichtathletik anbieten zu können, so wie der Mittwoch der traditionelle Fußballabend ist.Schließlich hat der IAAF-Rat vor ein paar Tagen eine wichtige neue Initiative gestartet.Mit Unterstützung der Stadt Rom und des Heiligen Stuhls werden wir am 1.Januar 2000 den Marathon des neuen Jahrtausends veranstalten, mit dem Start auf dem Petersplatz, unter Beteiligung von Spitzenläufern und Vertretern aller 209 Mitglieder des Verbandes.Es wird der Auftakt zu den großen Jubiläumsfeiern des Jahres 2000 sein.

TAGESSPIEGEL: Die IAAF hat sich bei der Preisgeld-Entwicklung mit dem Grand Prix und nun der Golden League an die Spitze gestellt.Doch wie sollen die kleineren Meetings überleben? Besteht nicht die Gefahr, daß die Athleten kein Interesse mehr an nationalen Meisterschaften haben?

NEBIOLO: Nein, ich glaube nicht, daß die Preise für Akteure, die eine große Show bieten, die Aktivitäten anderer Athleten beeinträchtigen können.Denken Sie nur an die großen Champions, die die Leichtathletik in jungen Jahren aufgeben mußten, weil sie sich auf andere Weise ihren Lebensunterhalt verdienen mußten: von Jesse Owens bis Bob Hayes, Herb Elliot bis Tommie J.Smith.Das war ein großer Verlust für den Sport.

TAGESSPIEGEL: Ist der Terminkalender nicht überladen, wenn wir nur an diesen Sommer denken: Grand-Prix-Sportfeste, nationale Titelkämpfe, Europacup, Golden League, Europameisterschaften, Grand-Prix-Finale und Weltcup?

NEBIOLO: Und was ist mit dem Fußball-Kalender? Oder dem Rad-Kalender? Ein Spieler von Juventus, meinem Lieblingsverein, bestreitet 60 bis 70 Spiele im Jahr - die Meisterschaft, Pokalspiele, Turniere der Nationalmannschaft und andere Turniere.Das Problem liegt im Training und der Lebensführung.

TAGESSPIEGEL: Ist es richtig, daß die Golden League von jetzt sechs Stationen erweitert werden soll?

NEBIOLO: Ja.Wir beabsichtigen, das Programm im nächsten Jahr auf sieben oder acht Veranstaltungen zu erweitern und dann weiter auf zehn, unter Einschluß Japans und der USA.

TAGESSPIEGEL: Es hat in der Vergangenheit - begründet oder auch nicht - Vorwürfe gegeben, der Kampf gegen den Dopingmißbrauch würde nicht mit aller Konsequenz geführt.Mit großen Unterschieden auf den Erdteilen.Wie ist der derzeitige Stand, was hat die IAAF auf diesem Gebiet vor?

NEBIOLO: Der IAAF hat den Kampf gegen das Doping in einer Weise geführt, der dem Vergleich mit jedem anderen Internationalen Sportverband standhält.Wir haben ein Programm mit Tests außerhalb der Wettkämpfe, das uns Millionen Dollar im Jahr kostet.1997 haben wir 2758 Tests gemacht, 1996 waren es 2606.Von diesen waren 1248 im Wettkampf (wegen der WM und der Hallen-WM) und 1510 außerhalb.In diesem Jahr werden wir mehr Tests außerhalb der Wettkämpfe haben.Die Top-20 jeder Disziplin werden alle getestet.Athleten haben einen speziellen Anti-Doping-Paß.Athleten, die einen IAAF-Vorschuß in bar erhalten wollen, müssen nachweisen, daß sie sich in den letzten zwölf Monaten zwei Tests außerhalb der Wettkämpfe unterzogen haben.

TAGESSPIEGEL: In diesem Jahr werden erstmals EM-Titelträger im Stabhochsprung und Hammerwerfen der Frauen ermittelt.Was kommt neu ins olympische Programm in Sydney 2000?

NEBIOLO: Zwei Disziplinen, die bei der Leichtathletik-WM 1999 in Sevilla auf dem Programm stehen, der Stabhochsprung und das Hammerwerfen der Frauen, werden bei den Spielen in Sydney vertreten sein.

TAGESSPIEGEL: Wer waren für Sie in der Nachkriegsära die herausragenden deutschen Athletinnen oder Athleten?

NEBIOLO: Ich kann Armin Hary, Martin Lauer und Manfred Germar nicht vergessen.Und jener großartige 400-Meter-Läufer Carl Kaufmann, und natürlich Reske, Kaiser und Kinder.Dann gab es Bodo Tümmler und Harald Norpoth bis hin zu Lars Riedel.Andere große Stars über ihre aktive Karriere hinaus waren Harald Schmid, Heide Rosendahl, Marita Koch und Heike Drechsler.

TAGESSPIEGEL: Und welche internationalen Sportlerinnen und Sportler, die Sie erleben durften, haben Sie am stärksten beeindruckt?

NEBIOLO: Es wäre extrem schwierig, ein Team mit allen großen Stars zusammenzustellen, die unser Sport in den letzten 50 Jahren hervorgebracht hat.Carl Lewis und Sergej Bubka fallen mir natürlich ein, wenn man die enorme Zahl ihrer großen Siege ihrer langen Karrieren berücksichtigt, aber wir sollten Fanny Blankerts-Koen, Emil Zatopek und Abebe Bikila nicht vergessen, die alle ihr ganz persönlichen Spuren in der Geschichte der Leichtathletik hinterlassen haben.

TAGESSPIEGEL: Wie sehen Sie die Chancen für die Bewerbung Berlins um die Gastgeberschaft von Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2005 oder 2007?

NEBIOLO: Ich hoffe wirklich, daß Berlin sich um die Ausrichtung der Weltmeisterschaften bewerben und die Mehrheit des IAAF-Rates dafür stimmen wird.Berlin ist das Herz Europas, und die Leichtathletik ist das Herz des gesamten Sports - zusammen ist das eine Erfolgsgarantie.

Übersetzung aus dem Englischen: Paul Stoop

ERNST PODESWA

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