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Sport: Die Reserve holt Gold

US-Turnerinnen gewinnen sensationell den WM-Titel

Anaheim. Der Pate des amerikanischen Frauenturnens lief zur Höchstform auf. „Das ist der größte Sieg, den eine amerikanische Riege jemals erreicht hat“, sagte Bela Karoly, und in seiner Stimme schwang viel Pathos mit. Kein Zweifel, der gebürtige Rumäne siedelte den Mannschaftstitel der US-Turnerinnen bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land ganz oben an in seiner persönlichen Erfolgsbilanz. Die Rumänin Nadia Comaneci hatte Karoly einst zur ersten 10,0-Wertung der Turngeschichte geführt, und Mary Lou Retton zum ersten amerikanischen Mehrkampfsieg bei Olympischen Spielen. 1984 war das, in Los Angeles. Und jetzt diese Goldmedaille.

Noch nie zuvor war eine amerikanische Mannschaft Weltmeister geworden, einen Tag zuvor waren die Männer zum zweiten Mal hintereinander an China gescheitert. Doch dann erlebten die 10 000 amerikanischen Fans im Arrowhead Pond einen historischen Tag, in der Halle wehten die Sternenbanner und bei der Hymne flossen Tränen.

Die Inszenierung hatte Hollywoodformat, denn die amerikanischen Turnerinnen hielten Rumänien und Australien deutlich auf Distanz, obwohl sich in den Tagen von Anaheim nacheinander drei der wichtigsten Akteurinnen verletzt verabschiedet hatten, zuletzt die US-Mehrkampfmeisterin Courtney Kupets mit einem Achillessehnenriss. Aber selbst die zweite amerikanische Garnitur, angeführt von der überragenden Chellsie Memmel, war nicht zu schlagen an diesem Abend.

„Das war die Prüfung für unser Trainingsmodell“, sagte Karoly, dessen Frau Marta die WM-Vorbereitung als Cheftrainerin geleitet hatte. Die amerikanischen Turnerinnen hatten sich getrennt in den zahlreichen Turnzentren des Landes vorbereitet und waren nur alle vier bis sechs Wochen zu fünftägigen Trainingslagern im „Gym“, dem Trainingszentrum der Karolys in Houston/Texas, zusammengekommen.

„Sehr amerikanisch“ sei dieses Modell, befand Karoly, und einmalig auf der Welt. Alle anderen Nationen hatten vor dieser WM auf komplette Zentralisierung gesetzt. Sehr amerikanisch auch die Trainerhierarchie: Die Cheftrainerin wurde von den Kollegen gewählt. „Bei einem Misserfolg hätte ich vermutlich zurücktreten müssen“, sagte Marta Karoly. Jetzt sind ihre Turnerinnen auch bei Olympia in Athen die Favoritinnen.

Mit einer länger andauernden Dominanz der Amerikanerinnen rechnet Bela Karoly aber nicht. „Wir werden auch in Zukunft Duelle zwischen den führenden Turnnationen haben“, sagte der Riese mit dem grauen Schnauzbart, der Rumänien, China und auch die überraschend starken Australierinnen auf dem Zettel hat. Vor allem die Rumäninnen, Mannschafts-Olympiasieger von Sydney, werden diese Niederlage nicht auf sich sitzen lassen wollen. „Life is life“, sagte deren Cheftrainer Octavian Belu, der andere große Schnauzbartträger der Szene, „und das muss man akzeptieren.“ Das klang ebenfalls verdächtig amerikanisch an diesem außergewöhnlichen Turn-Abend.

Jürgen Roos

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