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Ein Bild, zwei Trends. Mario Gomez überzeugte bei der EM nicht nur

© AFP

Sport: Die Rückkehr der Frisur

Kopfballtore, Tiki-Taka- und „Schland“-Verdruss – wir präsentieren die wichtigsten Trends der EM.

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Der erste Trend der EM ist gleich der überraschendste: Auf einmal – niemand weiß genau, wie es dazu kam – mehrten sich in Kneipen und sonstigen Expertise-Hot-Spots die Einwände gegen Kurzpassspiel und Ballbesitzstandswahrung. In der Tiki-Taka-Rezeption markierte die EM 2012 in etwa eine Zäsur von den Ausmaßen des Übergangs der Jugendmode in den 1980ern (Schulterpolster) zu der in den 1990ern (bauchfrei). Nur das Zwischenstadium mit Haddaway und Dr. Alban (sowohl als auch) fehlte.

PRIVATE PUBLIC VIEWING

Wer überall dabei sein will, wo etwas los ist, hat diesen Trend unter Garantie verpennt. Denn der- oder diejenige stand dann auf der Fanmeile und fragte sich immer, warum denn hier nur noch besoffene Oberschüler „Sieg!“ brüllten. Die Erosion des Public Viewings hin zu einer zwar gut, aber von einem mehr und mehr einschlägigen Publikum besuchten Veranstaltung hat auch etwas mit dem Fortschritt in heimischer Veranstaltungstechnik zu tun: Wo Flachbildschirm und Beamer zur Hand sind, die ein solides Fußballerlebnis mit geladenen Gästen ermöglichen, sinkt der Wunsch, vor Riesenleinwänden mit einem Plastikbecher in der Hand das andere Deutschland zu repräsentieren. Weiterer Vorteil: Im Wettstreit um den geringsten „Digital Delay“ – also die schnellste Übertragung – steht man mit der heimischen Kabel- oder DVBT-Verbindung meist ganz gut da. Und wer zuerst jubelt, jubelt bekanntlich am besten.

FRISUREN

An sich noch kein Trend, doch angesichts der immer ambitionierteren Aufbauten am Spielerkopf lässt sich von einer Rückkehr der Frisur nach einer Epoche des Haarschnitts sprechen. Die Angst, späteren Generationen als Opfer des Zeitgeistes zu gelten, hat sich rund 20 Jahre nach der letzten Hochzeit der prononcierten Fußballerfrisuren (Werners Vokuhila, Effenbergs Tigerkopf, Valderamas Minipli-Mob) scheinbar so weit gelegt, dass man wieder Dinge tut, die dem Träger spätestens in 20 Jahren Hohn und Spott einbringen werden. Gomez, Reus und Balotelli, ob mit Tolle, Lamafrisur oder Hahnenkamm – vorbei ist die Zeit der angepassten Beckham-Iros. Der Mut, der auf dem Platz oft fehlt – beim Friseur scheint er derzeit reichlich vorhanden.

KOPFBALLTORE

Ob ihr überdurchschnittlich häufiges Vorkommen direkt mit dem vorangegangenen Punkt korrespondiert? Man weiß es nicht. Fakt ist aber: Nichts bringt eine Frisur so schön zur Geltung wie ein erfolgreicher Kopfstoß.

MEINUNGSPLURALISMUS

Klingt sperrig, ward aber tatsächlich in Deutschland in dieser Form lange nicht gesehen, so dass man – wenn schon nicht von einem Trend – doch von einem nicht unwichtigen Revival sprechen kann. Die weitgehende Einigkeit in der Beurteilung der Nationalmannschaft und ihres Wegs seit 2006 – sie ist nicht mehr. Ist Ergebnisfußball vielleicht doch besser? Ist Fußballpatriotismus vielleicht doch fremdenfeindlich? Totgesagte Fragen leben länger – die Debatte über Fußball ist während der EM in Deutschland eine andere geworden. Zu ihrem Leidwesen eine, in der Berti Vogts plötzlich als Herrscher eines goldenen Zeitalters dasteht.

REALITÄT 2.0

A propos sperrig – auch in der Diskussion um zwischengeschnittene TV-Bilder, die zwar zur Emotion eines Augenblicks passen, jedoch zu einem ganz anderen Zeitpunkt aufgenommen wurden, steckt noch einiges: Ist die verantwortliche Uefa wirklich nur ein mieser Fälscherverein – oder nicht doch eher Avantgarde? Ist ein Bild dadurch weniger wahr, dass es aus einem anderen Kontext stammt? Sehen wir hier nicht eine Wiederbelebung der Eisensteinschen Attraktionsmontage, die die Assoziativität der Bewegtbilder betont, anstatt in ihr eine Pseudo-Kontinuität der Narration zu behaupten? Ein Trend wurde gesetzt – jetzt muss die Medientheorie ihn nur noch aufgreifen.

MINIMAL–RHETORIK

Auch das ist mehr Revival als wirklich neu – und doch einigermaßen bemerkenswert: Hieß es nun über Jahre, die junge Fußballergeneration sei – mit Ausnahme des personifizierten Vier-Wort-Satzes Lukas Podolski – rhetorisch versierter als jene der menschgewordenen Bolzplätze um Lothar Matthäus, geht der Trend nun eindeutig wieder zum Kicker, der außer „Leo“, „Hab’ ich“ und „Hintermann“ nichts zu sagen hat: Ob Özil, Schürrle oder Reus – vor Mikrofonen wirkten alle Jungprofis außer Mats Hummels wie LPG-Traktoristen in Interaktion mit dem DDR-Fernsehen. Ein bedenklicher Trend.

ITALIEN

Da muss man gar nichts mehr zu sagen: Italien hat diesem Turnier seinen Stempel aufgedrückt, ist Überraschung in einem Meer der Vorhersehbarkeiten, hat Balotelli – und ist damit selbstverständlich Top-Trend der EM 2012.

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