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Sport: Die schnelle Mitte

Der TBV Lemgo dominiert die Handball-Bundesliga – und prägt einen ganz neuen Stil

Köln. Immer wieder ging an diesem Samstagabend ein Raunen durch die Kölnarena, angesichts der Machtlosigkeit des Gastgebers VfL Gummersbach. Erneut hatte sich der Angriffssturm des TBV Lemgo Bahn gebrochen durch eine bemitleidenswerte Abwehr. Selbst dem routinierten Hallensprecher stockte da nicht selten der Atem. Oft hatte er Treffer des Heimteams noch nicht abschließend gewürdigt, da stellte der Tabellenführer den alten Vorsprung wieder her. Am Ende gewann Lemgo auch sein achtes Spiel in dieser Saison. Dabei entsprach das 35:28 (18:12) noch nicht einmal den tatsächlichen Kräfteverhältnissen. Das Starensemble hatte, das war die bittere Erkenntnis für die Gummersbacher, eine 10:2-Führung aus der ersten Viertelstunde über die Zeit gespielt.

Die über 15 000 Zuschauer waren derart verblüfft angesichts der überlegenen Spielweise des Gegners, dass sie am Ende nicht einmal pfeifen wollten. Denn der TBV Lemgo präsentierte ihnen ein neues Konzept von Handball, das diese Sportart in Zukunft beherrschen wird. Es beruht auf einem knallharten Tempospiel, in dessen Zentrum die so genannte schnelle Mitte steht; gemeint ist damit der schnellstmögliche Wiederanwurf nach einem Gegentor.

Dieser ist nach der Regeländerung bereits möglich, wenn sich gegnerische Spieler noch in der eigenen Hälfte befinden. Zuständig beim TBV Lemgo für diesen schnellen Anwurf ist Nationalspieler Christian Schwarzer. Deutet sich auch nur ein Wurf auf das eigene Tor an, bewegt er sich bereits zum Anwurfkreis, und er bekommt dort sofort den Ball vom eigenen Keeper zugepasst. Dann passt er ihn, so sieht es die favorisierte Variante vor, zum heranstürmenden Regisseur Daniel Stephan, der entweder sofort selbst abschließt oder schnelle Mitspieler wie Markus Baur oder die wendigen Außenspieler Florian Kehrmann und Carlos Lima bedient. Verhindert der Gegner diesen Spielzug, dann startet Lemgo dennoch grundsätzlich eine zweite Welle, den verzögerten Tempogegenstoß, die der gegnerischen Verteidigung genauso wenig die Möglichkeit gibt, sich wie gewünscht zu formieren. So warf Lemgo in der Saison bereits 270 Tore, unglaubliche 33,7 Treffer im Schnitt.

Diese immense Kraft raubende Spielweise erfindet eine Sportart neu, sie bedeutet nichts anderes als eine selten gewordene Revolution im modernen Leistungssport. Denn sie erfordert nicht allein eine größere Kondition. Es wird ja das einzelne Tor entwertet. Ergebnisse und Charakter des ganzen Spiels, sagt der Gummersbacher Spieler Jörn Ilper, „nähern sich langsam denen im Basketball an“. Auch schließen sich aufgrund der Schnelligkeit und Dynamik bisher taktisch vorgenommene Einwechslungen beim Umschalten von Angriff auf Abwehr in Zukunft aus. „Wir haben diese Art von Handball nicht erfunden“, sagt Daniel Stephan. Damit meint er, dass auch Mannschaften wie der THW Kiel, TuSEM Essen und die SG Flensburg in den letzten beiden Spielzeiten die schnelle Mitte in ihr taktisches Konzept aufgenommen haben. Aber keine andere Mannschaft betreibt es momentan ähnlich perfekt wie der TBV Lemgo. „Wir haben“, so formuliert es ein euphorischer TBV-Manager Fynn Holpert, „einen neuen Stil wachgeküsst“.

Doch die Kreation des neuen Stils, sagt Trainer Volker Mudrow, erfordert „Spieler, mit denen man taktisch gut arbeiten kann, enorme Ballsicherheit, ein exzellent eingespieltes Team und großes Selbstvertrauen“. Über all das verfügt Lemgo zurzeit reichlich. Und doch hat sich Mudrow erst für diese Spielweise entschieden, nachdem seine Mannschaft diverse Vorbereitungsspiele und den Supercup in diesem Hurra-Stil dominiert hatte. Doch es bleibt völlig unklar, ob Lemgo dieses Tempo bis Ende Mai durchhalten kann. „Wenn es schief geht“, ahnt Holpert, „geht die Party nach hinten los.“ Aber er ist sich sicher, „dass bald viele Mannschaften uns zu kopieren versuchen“. Wie lange das dauern wird, ist nicht vorherzusagen. Aber passiert es nicht kurzfristig, dann wird Lemgo schon sehr bald neues Briefpapier drucken müssen. Eines, das die neuen Titel zur Geltung bringt.

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