zum Hauptinhalt

Sport: Die Sekunde von Karl-Marx-Stadt

Geburt einer Mannschaft: Wie sich die bundesdeutschen Handballer 1976 gegen die DDR durchsetzten

Als der Pfiff zum Siebenmeter in der umgebauten Eissporthalle in Karl-Marx- Stadt ertönt, jubeln 4000 Zuschauer ekstatisch, und einige Männer in den dunklen Trikots brechen zusammen wie vom Schlag getroffen. „Alle fallen auf den Boden wie die Birnen“, erinnert sich Vlado Stenzel, der Bundestrainer. Weil für die Westdeutschen nun alles verloren scheint in diesem Duell um die Olympia- Qualifikation für Montreal 1976.

Kurt Klühspieß, der blonde Hüne vom TV Großwallstadt, sitzt noch fassungslos am eigenen Sechsmeter-Raum, als Hans Engel, der Rückraumschütze aus den Reihen des ASK Frankfurt/Oder, entschlossen den Weg zum Strafwurf antritt. Heiner Brand, der heutige Bundestrainer, wendet sich enttäuscht ab. Andere Spieler liegen wie gelähmt auf dem Boden und erwarten geschockt diesen einen Moment am 6. März 1976, der wie kaum ein anderer den Klassenkampf auf sportlicher Ebene verdichtet. Es steht 11:8 für die DDR, und gleich wird ein Siebenmeter entscheiden, welche Ideologie die überlegene ist: Kommunismus oder Kapitalismus.

Dieses Duell ist aber auch ein Kampf zwischen David und Goliath. Die Handball-Mannschaft der DDR ist eine etablierte Größe, sie ist 1974 Vize-Weltmeister geworden, sie geht also als haushoher Favorit in diese Olympia-Ausscheidung. Denn die Bundesrepublik ist noch nicht so recht angekommen im Zeitalter des Hallenhandballs. Stenzel, der jugoslawische Trainer der Bundesdeutschen, hat die Altstars wie Hansi Schmidt (VfL Gummersbach) rausgeworfen und ein neues, hungriges und sehr junges Team aufgebaut.

Das Finale des Dramas aber verzögert sich. Die schwedischen Schiedsrichter haben, ein Skandal, schon über vier Minuten nachspielen lassen, „so lange, bis sie endlich diesen letzten Siebenmeter pfeifen konnten“, sagt Klühspieß. Als der Strafwurf besiegelt ist, will Stenzel den zweiten bundesdeutschen Keeper Rudi Rauer einwechseln. „Der war unser Siebenmeter-Töter“, rekapituliert Stenzel, „und Rauer hat sich schon bewegt: Ich habe gesagt: ‚Du gehst ins Tor’.“ Aber in diesem Augenblick, in dem die Halle tobt, gibt ihm Torwart Manfred Hofmann ein Zeichen. „Hofmann hat mit der Hand signalisiert: Lass das! Er wusste, dass er den Ball hält.“

Während der Bundestrainer in Körpersprache mit dem Torwart kommuniziert und ihn im Spiel lässt für das finale Duell, liegen die anderen Spieler immer noch am Boden. Vor ihren Augen laufen noch einmal die letzten 65 Minuten ab, und das Hinspiel in München. Wie sehr damals dieses deutsch-deutsch Handball- Duell politisch aufgeladen war, wie sehr sich darin die Konflikte des Kalten Krieges fokussierten, das machte schon die Vorgeschichte deutlich. Für das Hinspiel in der Olympiahalle, das 100 000 sehen wollten, hatte Stenzel tief in die Trickkiste gegriffen und einen ungewohnten Nadelfilzbelag verlegen lassen. Die Spieler aus der DDR reagierten geschockt, und sie kamen auch nicht mit der feindseligen Atmosphäre zurecht, die die fanatischen 10 500 Zuschauer entfachten. „Das war Klassenkampf auf dem Spielfeld“, sagt Klühspieß. Am Ende hatten die Westdeutschen den Favoriten mit 17:14 geschlagen, und Stenzel wurde auf den Schultern aus der Halle getragen. Da die Bundesrepublik danach den Gruppendritten Belgien mit 34:6 abkanzelte, würde beim Rückspiel eine Niederlage mit drei Toren reichen. Bei 8:11 würde der Westen nach Montreal fliegen.

Der Ort des Geschehens, Karl-Marx- Stadt, das heutige Chemnitz, ist wohlbedacht. Hier haben die Bundesdeutschen zwei Jahre zuvor, bei der WM 1974, historische Niederlagen erlitten und sind nur Neunte geworden. Karl-Marx-Stadt ist bis zu diesem letzten Moment ein Ort der Schande für den West-Handball. Der Tiefpunkt. In der Vorbereitung auf das Duell der Systeme hat Stenzel an alles gedacht. Vor einer Testpartie in Dietzenbach bittet er die Zuschauer, sein Team gnadenlos auszupfeifen, und den Schiedsrichtern befiehlt er, „alles, was geht, gegen uns zu pfeifen“. Stenzel nimmt auch eigene Köche in die DDR mit, weil er Angst hat, dass seinen Spielern Schlafmittel verabreicht werden. Ein paar Jahre später schreibt er über die Ankunft in der umfunktionierten Eissporthalle: „Uns schlug eisiger Wind entgegen. Alles, was westdeutsch war, wurde niedergeschrien.“

Engel will nun werfen, aber da geht Hofmann noch einmal zum Schiedsrichter. Hofmann fragt: „Muss dieser Siebenmeter noch sein?“ Und er fragt das noch einmal, und noch einmal. Engel muss warten. Erst nach einer Ewigkeit geht Hofmann langsam zurück ins Tor, und dann wieder ein Stück nach vorn, um den Winkel zu verkürzen. Immer noch liegen die Mitspieler am Boden, erinnert sich der Torwart: „Meine Mitspieler haben sich alle weggedreht. Alle haben gedacht: Das war’s.“ Dann tritt Engel an. Er täuscht an, aber Hofmann, der Stoiker, wartet. Erst als der Ball die Hand Engels verlässt, schnell das Knie des Keepers zur Seite, und einen Moment später knallt das Leder an die Decke. Engel bricht zusammen und bleibt liegen. Die Spieler in den dunklen Trikots springen auf und feiern Hofmann als Helden.

Es war eine Sekunde, „die über Jahre entschied“, schrieben hernach die Zeitungen. Denn dieser Showdown in Karl-Marx-Stadt war die Geburt einer großen Mannschaft. Zwar verpasste die Bundesrepublik in Montreal mit dem vierten Platz die ersehnte Medaille, aber zwei Jahre später in Kopenhagen wird sie mit dem 20:19 gegen die Sowjetunion erstmals Hallenhandball-Weltmeister. „Ein Meilenstein“, sagt Klühspieß. Stenzel nennt Karl-Marx-Stadt (trotz der 8:11-Niederlage) seinen „Lieblingssieg“ – noch vor dem Olympiasieg mit Jugoslawien 1972 und dem WM-Titel 1978. So wurde dieser Augenblick, der ganz allein Manfred Hofmann gehörte, zum Mythos.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false