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Sport: Die späte Angst der Opfer

Warum beantragen so wenig Betroffene des DDR-Dopings Entschädigung? Weil die Beweisführung so schwer fällt, sagt Simone Machalett

Berlin. Simone Machalett hat eine ungewöhnliche Stimme. Sie redet leise, manchmal ist es nicht mehr als ein Flüstern. Es ist eine rauchige Stimme, aber weil sie so leise ist, hört man schlecht, wie tief sie wirklich ist. Sie klingt auf jeden Fall nicht so tief wie die der anderen Opfer des DDR-Dopings. Die frühere Weltklasse-Schwimmerin Karen König zum Beispiel wird am Telefon regelmäßig mit „Herr König“ angesprochen. Wenn Simone Machalett, die Junioren-Europameisterin von 19977 im Kugelstoßen, zynisch wäre, dann würde sie denken: Nicht mal meine Stimme ist tief genug. Eine tiefe Stimme würde ihr helfen. Die könnte jeder hören. Sie bräuchte dann nur übers Wetter zu reden, und trotzdem wüsste jeder, dass da etwas nicht stimmt.

Aber die Stimme ist nicht tief genug, und andere erkennbare körperlichen Schäden hat die 42-Jährige auch nicht. Das ist ihr Problem. Deshalb hat sie diesen Antrag auf Entschädigung aus dem Dopingopfer-Fonds noch nicht ausgefüllt. Sie hat ihn jetzt dabei in Tschechien, in diesem kleinen Ort, in dem sie mit ihrem Mann Urlaub macht. „Ich fülle ihn jetzt aus“, sagt sie vor der Abreise, „ich nehme es mir fest vor.“ Aber den Antrag hat sie seit Wochen, und ausgefüllt hat sie bisher nur wenig. Deshalb steht sie jetzt in einem schiefen Licht da. Nicht sie ganz persönlich natürlich, aber als Teil einer riesigen Gruppe.

Nicht mal 40 Anträge von DDR-Dopingopfern auf eine Entschädigung sind bisher eingegangen, obwohl doch zwei Millionen Euro zur Verfügung stehen. Manche Politiker und Sportfunktionäre sagen schon, dass es so viele Opfer des DDR-Dopings wohl doch nicht gegeben haben kann. Sonst hätten sie ja längst in den Geldtopf gegriffen. Das ist ihre Logik.

Es ist eine Logik, die quasi unterstellt, dass es da keinen Unterschied zu Leuten gibt, die Anträge auf Mietzuschüsse ausfüllen müssen. Aber Simone Machalett muss über eine kaputte Seele schreiben und über Gedanken, die sie gelöscht hatte, weil sie sonst wahnsinnig geworden wäre und nicht mehr richtig funktioniert hätte in ihrem Job. Erst als Lehrerin, jetzt als Polizistin im Streifendienst, Bezirk Berlin-Marzahn. „Das Schlimmste ist, dass ich hauptsächlich mit Gefühlen belegen muss, dass ich ein Opfer bin.“ Sie würde sich gerne hinter Gebrechen verstecken, wenn sie schon diesen Antrag ausfüllen muss. Irgendetwas mit dem sie ohne große Worte belegen könnte, dass sie Opfer des DDR-Dopingsystems ist. Dann hätte sie den Antrag vielleicht schon ausgefüllt.

Aber Simone Machalett vom Berliner TSC ist mit 18 Jahren ausgestiegen aus diesem System. Der Ausstieg hat sie vor dem Schlimmsten behütet, aber paradoxerweise ist das jetzt ihr größtes Problem. Denn es gibt keine Krankenakten mehr von ihr. Sie hatte mit 15 Jahren schwere Gelbsucht, weil sie die Pille nehmen musste und die sich nicht mit den Dopingmitteln vertrug. Aber diese Akten sind wohl längst weggeworfen worden. Und sie findet nirgendwo ein Protokoll, auf dem vermerkt ist, was dieser Arzt in der Charité der 18-jährigen Simone Machalett bei einer Routineuntersuchung entsetzt mitgeteilt hatte: „Sie haben die Unterleibsorgane einer Achtjährigen. Wenn Sie mit dem Sport weitermachen, kann es sein, dass Sie Olympiasiegerin werden, aber keine Kinder mehr gebären können.“ Simone Machalett ging schockiert aus dem Raum und teilte auf dem Gang ihrer Trainerin mit: „Ich höre sofort auf.“ Aber es gibt keine Akte über diese Untersuchung, und die Unterleibsorgane der Kugelstoßerin haben sich glücklicherweise noch normal entwickelt. Heute hat sie zwei Kinder. Sie hat nicht mal mehr ihre früheren Medaillen. „Irgendwann habe ich sie mal weggeschmissen“, sagt sie. Aus Wut? „Ich weiß es nicht mehr.“

Aber jetzt liegt dieser Antrag in ihrem Haus. Die 42-Jährige zwingt sich immer wieder zum Schreiben. Und immer wieder bricht sie ab. Nach drei, vier Sätzen. „Dann kommt mir wieder hoch, was die mit mir gemacht haben. Die haben in Kauf genommen, dass ich keine Kinder bekommen konnte. Oder dass die behindert auf die Welt kommen würden.“ Dieser Antrag ist wie ein Spiegel. Sie sieht darin die junge Simone Machalett. Die 15-Jährige, die dieser Trainerin vertraute. So bedingungslos, wie es passiert, wenn die Betreuerin die Rolle der Mutter übernimmt. Ihre echte Mutter sah Simone Machalett kaum. Die Kugelstoßerin lebte im Internat, sie hatte nur den Sport und die Schule. Die Trainerin drückte ihr Dopingpillen in die Hand, die Trainerin nahm Folgeschäden in Kauf. Und diese Trainerin ließ die 18-Jährige fallen, als die im Krankenhaus ihre Karriere beendete.

In diesem Moment hätte Machalettt eine Vertrauensperson gebraucht. Stattdessen musste ihr Vater, ein Bauarbeiter mit breitem Kreuz, im Klub Krach schlagen, damit seine Tochter einen Studienplatz erhielt. Aber die Tochter hatte sich immer nur über den Sport definiert. Jetzt stand sie da, in einem neuen Leben, allein gelassen, auf die Ängste mit Magersucht reagierend, und sie zog einen großen schwarzen Vorhang vor ihre Vergangenheit. Vergessen, radikales Vergessen war ihr einzige Chance. Aber jetzt muss sie alles wieder hervorkramen, jedes schmerzhafte Detail. Manchmal baut sie ihre Sätze komplett um, erinnert sich an ein weiteres Detail, wird wieder überwältigt von diesem Gefühl des Ekels und des Abscheus und legt den Antrag wieder weg. Mit wem reden Sie über diese Probleme, Frau Machalett? Mit ihrem Mann? Simone Machalett sagt: „Mit keinem. Nicht mal mit anderen Dopingopfern.“ Ihr Mann, sagt die Polizistin, beschwere sich schon über ständig miese Laune. Die Kinder beschweren sich auch.

Bis zum 31. März hat die 42-Jährige Zeit. Sie könne sich gut vorstellen, dass andere Opfer ihre Vergangenheitsbewältigung hinauszögern, so lange es geht, sagt Simone Machalett. „Kurz vor Ende der Frist wird dann die große Flut der Anträge kommen.“

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