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Sport: Die Standardfrage

Das deutsche Team entdeckt Ecken und Freistöße

Mönchengladbach - Jürgen Klinsmann ist ein durch und durch optimistischer Mensch. Der Bundestrainer glaubt daran, dass auch ein Fußballprofi noch lernen und jeder Spieler sich verbessern kann, wenn er entsprechend an sich arbeitet. Zurzeit muss der Bundestrainer ein wenig zweifeln an seiner eigenen Maxime. Vier Tore erzielte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in den letzten beiden Spielen nach und durch Standardsituationen, zwei am Dienstag beim 2:2 gegen Japan, zwei auch gestern beim 3:0 gegen Kolumbien – dabei hat Jürgen Klinsmann bisher weder Freistöße noch Eckbälle intensiv trainieren lassen.

„Wir haben das in den zwei Jahren ein bisschen ausgelassen“, sagt Joachim Löw, der Assistent des Bundestrainers, zum Thema Standardsituationen. Die Deutschen konnten sich diese Nachlässigkeit erlauben, weil sie seit der Europameisterschaft 2004 keine Pflichtspiele bestreiten mussten. Im Hinblick auf die WM wird sich das ändern. In Genf haben Klinsmann und Löw ein paar Varianten einstudieren lassen. Anwenden sollte die Mannschaft die neuen Tricks allerdings bewusst noch nicht. „Sonst würden die Gegner sich in aller Ruhe die Videos anschauen, wer wo hinläuft und wer wen versucht zu blocken“, sagt Klinsmann.

Gegen Kolumbien waren komplizierte Lösungen ohnehin nicht notwendig. Beim Freistoß vor dem 1:0 stand Michael Ballack völlig frei im Strafraum, was gegen den vermutlich kopfballstärksten Mittelfeldspieler der Welt keine besonders Erfolg versprechende Abwehrstrategie ist. Auch vor dem 2:0 machten es die Kolumbianer den Deutschen nicht allzu schwer. Bei Bastian Schweinsteigers Freistoß aus 25 Metern hatten sie gerade zwei Mann als Mauer aufgebaut. „Das wird bei der WM keine einzige Mannschaft machen“, sagt Klinsmann.

Statistisch gesehen fallen im modernen Fußball dreißig Prozent der Tore nach oder durch Standardsituationen. Die Nationalmannschaft ist in Klinsmanns Amtszeit bis zu dieser Woche deutlich unter dieser Quote geblieben. Trotzdem: „Man sieht ja, was wir für Möglichkeiten haben, weil wir vorne gute Kopfballspieler haben“, sagt Löw. Ballack zum Beispiel, Miroslav Klose und immer mehr auch Verteidiger Per Mertesacker, der in den letzten fünf Bundesligaspielen dieser Saison vier Kopfballtore für Hannover 96 erzielte.

In Deutschland ist das nichts Neues. Standardsituationen waren immer auch Bestandteil des Mythos vom unbesiegbaren Deutschland. Die Nationalmannschaft muss nicht gut spielen, im Zweifelsfall gewinnt sie durch ein Kopfballtor nach einer Ecke oder einem Freistoß. Wie 1980 im Finale der EM gegen Belgien, als Horst Hrubesch zwei Eckbälle ins Tor köpfte. Selbst bei der WM 1990 wäre die als spielerisch überzeugend geltende deutsche Mannschaft ohne ihre Stärke bei Standards vermutlich nicht Weltmeister geworden. Nach dem Achtelfinale gegen Holland erzielten die Deutschen kein Tor mehr aus dem Spiel heraus: Das Viertelfinale gegen Tschechien und das Endspiel gegen Argentinien gewannen sie durch Elfmeter, im Halbfinale gegen England traf Andreas Brehme per Freistoß.

Unter Rudi Völler waren Standardsituationen ein bewährtes Stilmittel, manchmal das einzige. Die Spiele gegen Japan und Kolumbien haben gezeigt, dass die alten Reflexe funktionieren. Vor allem im Hinblick auf die Weltmeisterschaft ist das eine erfreuliche Erkenntnis. In der Vorrunde werden die Deutschen aller Wahrscheinlichkeit nach auf sehr defensive Gegner treffen. „Bei der WM können wir mit einem Standard gegen tief stehende Gegner das 1:0 vorlegen“, sagt Per Mertesacker.

Klinsmann hat angekündigt, dass das Thema Standards in Berlin intensiv behandelt werden soll: „Wir werden jetzt an die Feinarbeit gehen.“ Neben der offensiven Schulung wird dabei auch das defensive Verhalten verfeinert werden müssen. Das 1:0 der Japaner fiel nach einem Eckball – für die Deutschen. Der Torschütze Naohiro Takahara stand bei der Ecke am eigenen Fünfmeterraum. „Er ist 90 Meter gesprintet und hat das Tor erzielt“, sagt Löw. „Da müssen wir uns klüger verhalten.“

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