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Ankommen in Odessa.

© Olaf Meinhardt / VISUM

Sport: Die Tränen von Odessa

Nirgends ist die Ukraine weltoffen wie in Odessa. Ein Besuch dort, wo die EM leider nicht gastierte.

Wo, bitte, geht’s hier nach Europa? Einfach die Treppe runter! Der Fußball ist Europa und der Weg nach Europa führt durch die Geschichte. Über 142 Meter und 192 Stufen, Sergej Eisenstein hat ihnen 1925 in seinem Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ Ruhm bis in alle Ewigkeit beschert. Unten breit, oben schmal, die Potemkinsche Treppe vom Hafen hinauf zur Innenstadt ist ein Meisterwerk der Illusion.

Ah, Odessa …

Dawai, dawai! Weiter, weiter!, die Potemkinsche Treppe runter Richtung Meeresbahnhof bis zum riesigen Hotel Odessa, einer Bausünde, die zu jung ist, als dass sie den Sowjets anzulasten wäre. Vor dem größten Hotel der quirligsten Stadt der Ukraine haben sie eine Leinwand aufgebaut. Gezeigt wird nicht „Panzerkreuzer Potemkin“, sondern Fußball. Deutschland – Italien. Das Publikum ist jung und international. Um die tausend Menschen, links ein paar Mädchen im italienischen Azzurro, ganz vorn sitzen zwei Jungs in schwarz-weißen Trikots, sie mögen um die 18 sein und fassen sich bei der deutschen Nationalhymne singend ans Herz. Niemand stört sich daran. Im Gegenteil: Wahrscheinlich wundern sich alle anderen, warum die auf die Leinwand geblendeten Nationalspieler Boateng oder Özil oder Khedira die Lippen aufeinanderpressen. Eine in der Menge fragt: „Sind das wirklich eure Spieler?“

Alexander Puschkin hat einmal gesagt, er könne in Odessa den Atem von ganz Europa spüren, und zum Dank haben sie ihm auf dem Meeresboulevard ein Denkmal gesetzt. Seit drei Wochen schaut ganz Europa auf den Fußball und die Ukraine. Warum die Ukraine den Fußball und Europa nicht nach Odessa eingeladen hat, versteht niemand so recht.

Nirgendwo ist dieses unter schwerem Diktaturverdacht stehende Land so entspannt, so multikulturell und weltoffen wie in der Millionenstadt am Schwarzen Meer. Nichts gegen die EM-Spielorte Charkiw und Donezk, sozialistische Musterstädte mit freundlichen Menschen und schönen Stadien. Aber welches Prestige hätte die Ukraine beim internationalen Publikum mit Spielen in Odessa gewinnen können? Bei den Touristen, die über elegante und belebte Boulevards flanieren, alle paar Meter in Gespräche verwickelt werden und an den Stränden am Schwarzen Meer baden. Niemand, der einen Tag in Odessa verbringt, wird daheim von einem resignierten und fremdbestimmten Volk erzählen oder davon, dass dieses Land kulturell nicht zu Europa gehört. In Odessa ist die Ukraine so, wie die Ukrainer jenseits aller politischen Diskussionen um Timoschenko, Janukowitsch undsoweiter sich selbst gern sehen. Die Stadt hat auch in Fußwegnähe vom Zentrum ein nagelneues Stadion, aber sie hat eben nicht, was Charkiw und Donezk haben. Odessa hat keinen Oligarchen, der finanziell kräftig und politisch einflussreich genug ist.

Die jungen Leute vor der Leinwand am Meeresbahnhof verfolgen schweigend das Spiel. Anerkennender Beifall, als die Deutschen in der Anfangsphase das italienische Tor berennen. Die schwarz-weißen Jungs laufen rüber zum Bierstand, und als sie zurückkommen, fällt das 1:0 für Italien. Egal. Die Jungs leeren ihr Bier in einem Zug. Ist ja noch Zeit. Dann schießen die Italiener noch ein Tor, der Schütze Mario Balotelli entblößt seinen muskulösen Körper und platziert sich auf dem Rasen wie ein Denkmal. Die Mädchen im italienischen Azzurro kichern und applaudieren. Die schwarz-weißen Jungs holen neues Bier.

Die Potemkinsche Treppe hat Odessa berühmt gemacht und Eisenstein die junge Sowjetunion, aber so ganz recht ist das den Machthabern damals nicht gewesen. Schließlich war der Fürst Potemkin (nach dem auch die berühmten, nur zum Schein existierenden Dörfer benannt sind) ein expansionistischer Kapitalist erster Güte und diente Katharina der Großen als Statthalter am Schwarzen Meer. Aber Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ spielt nun mal im Jahr 1905, und da trugen Schiffe noch keine sozialistischen Namen.

Halbzeit vor der Leinwand am Meeresbahnhof. Die Menge debattiert angeregt, die deutschen Jungs haben internationalen Anschluss gefunden. Einer übersetzt ihnen, was der ukrainische Fernsehkommentator über den großen und blonden und guten Torwart Manuel Neuer gesagt hat: „Ein ewiger Deutscher.“ Gelächter. Der kleinere der beiden Jungs sagt: „Jede Wette, dass wir dieses Spiel noch gewinnen!“ Keiner schlägt ein.

Odessa ist nach dem Weltmeersegler Odysseus benannt. Seine Bewohner nennen sich stolz Odessiten, sie definieren ihre Stadt als Nahtstelle zwischen Orient und Okzident, als Treffpunkt der ganzen Welt. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sollen hier Menschen aus 130 Nationen gelebt haben. Nach Lenin, Stalin und gut 80 sowjetischen Jahren hat Odessa zwar einiges von seinem internationalen Flair eingebüßt, aber die Vergangenheit kehrt langsam zurück. Neben Ukrainern und Russen leben hier Rumänen, Griechen, Deutsche, Franzosen, Araber, Türken, Armenier, Georgier und sonst noch allerlei Menschen. Gerade erst haben die Odessiten die alte Turnhalle an der Jewrejska-Straße zu dem geweiht, was sie früher mal war, nämlich die erste Synagoge der Stadt.

Es sieht schlecht aus für die schwarz-weißen Jungs am Meeresbahnhof. Ihre Mannschaft drängt und drückt und stürmt, aber die Italiener lassen nichts zu. Es ist wie früher, wie in diesen historischen Filmchen, die zur EM-Zeit im deutschen Fernsehen rauf und runter laufen. Mexiko 1970, WM-Halbfinale Deutschland gegen Italien. Der italienische Abwehrhüne Chiellini sieht aus wie damals Facchetti, der elegante Pirlo wie Rivera. Aber kein Deutscher erinnert an Schnellinger, den blonden Helden, der im WM-Halbfinale von 1970 kurz vor Schluss den Ausgleich schoss. Die Regie zeigt eine Frau, der Tränen die schwarz-rot-gold geschminkte Wange verschmieren – dass das Bild bereits vor Spielbeginn entstand, weiß hier in Odessa noch niemand im Publikum, das nun pietätvoll schweigt.

Die Szene, die Odessa und die Potemkinsche Treppe berühmt gemacht hat, ist 41 Sekunden lang. Ihr voraus geht ein Aufstand auf einem zaristischen Kriegsschiff, in dessen Folge die Armee im revolutionär gestimmten Odessa aufmarschiert. Auf der riesigen Freitreppe feiert das Volk den bevorstehenden Umschwung. Im Hintergrund dröhnt heitere Musik, da eröffnet die Soldateska das Feuer. Am oberen Ende der Treppe sinkt verzweifelt eine junge Mutter zu Boden, sie beweint die Toten und merkt gar nicht, wie ihr Kinderwagen ins Rollen kommt. 41 Sekunden, 142 Meter und 192 Stufen lang verfolgt die Kamera, wie der Kinderwagen mit dem schreienden Baby nach unten poltert, vorbei an Säbeln und Bajonetten und Gewehren. Oben weint die Mutter, unten eine Babuschka.

Vor der Leinwand am Meeresbahnhof weinen die schwarz-weißen Jungs. Aus, Ende, vorbei, 2:1 für Italien. Die beiden Mädchen im italienischen Azzurro lachen herüber, aber es wirkt nicht hämisch, sondern mitfühlend. Einer aus der Menge ruft: „Come on, boys!“ Dawai, dawai, weiter, weiter! Die berühmteste Treppe der Welt hinauf, 192 Stufen in die Nacht von Odessa. Diese eine Nacht noch, dann fahren die schwarz-weißen Jungs, nun neutrale Beobachter, zum Finale. Nach Kiew, wo die EM zu Hause ist – und ein bisschen auch Europa.

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