zum Hauptinhalt
Ein Turnier, zwei Mannschaften. Löw stellt seine Spieler auf höchst unterschiedliche Gegner in der Gruppenphase und in der K.-o.-Runde ein.

© dpa

Die wichtigsten Fragen zur Nationalmannschaft: Wer ersetzt Marco Reus? Was ist mit Bastian Schweinsteiger?

Joachim Löws Kader eröffnet dem Bundestrainer viele Varianten, frei von Schwachstellen ist er aber nicht. Vor allem in der Abwehr gibt es Probleme.

Der Kader der deutschen Fußball-Nationalmannschaft für die Europameisterschaft in Frankreich (10. Juni bis 10. Juli) steht, am Dienstag hat Bundestrainer Joachim Löw die letzten Personalien geklärt. Was ist von dem Aufgebot zu halten? Wo liegen die Stärken? Wo gibt es Schwachstellen? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

Wer spielt im Sturm?

Als Miroslav Klose nach der WM 2014 seine internationale Karriere beendet hat, war das nicht nur ein großer sportlicher Verlust für die Nationalmannschaft. Es schien auch das Ende einer historischen Epoche zu sein: Der deutsche Fußball nahm quasi offiziell Abschied vom Mittelstürmer. Wer hat denn damals noch an Mario Gomez gedacht?

Inzwischen aber verfügt Joachim Löw nicht nur über lauter falsche Neuner, der Bundestrainer hat auch wieder eine richtige Neun. Mario Gomez eben, der jetzt für Besiktas Istanbul spielt, gerade den türkischen Meistertitel geholt hat und Torschützenkönig geworden ist. Der Mittelstürmer vom alten Schlag kommt in diesen Tagen nicht nur gut gelaunt daher, sondern mit seinen nun 30 Jahren auch ziemlich windschnittig. Gomez behauptet sogar, er sei „wahrscheinlich so gut wie noch nie“ in seiner Karriere. Zumindest ist er wieder eine echte Alternative für Löw.

Der Bundestrainer hat die Wahl, ob er den Posten im Sturm mit einem gebürtigen Mittelfeldspieler wie Mario Götze besetzt, der sich dank seiner Ballsicherheit gepflegt zwischen den gegnerischen Verteidigungsreihen bewegen kann. Oder ob er nicht doch lieber auf Wucht im Abschluss setzt.

Es zeichne die Mannschaft aus, „dass die Variabilität von Systemen vorhanden ist“, sagt Gomez. Und es zeichnet ihn aus, dass er sich den Erfordernissen der Moderne angepasst hat, dass er sich inzwischen auch aus dem Strafraum herausbewegt, dass er anspielbar ist, den Kombinationsfluss nicht hemmt – und trotzdem seine eigentliche Stärke nicht verloren hat. „Mario ist ein Stürmer der letzten Aktion“, sagt Löw. Das hebt ihn aus einem Kader heraus, der es zu einer gewissen Meisterschaft darin gebracht hat, auch die letzte Aktion immer ein bisschen wie die vorletzte aussehen zu lassen.

Wer ersetzt Marco Reus?

Es ist schon paradox. Marco Reus, einer der besten deutschen Offensivspieler der Gegenwart, verpasst nach der WM 2014 auch die EM 2016. Lukas Podolski hingegen, der höchsten internationalen Ansprüchen schon länger nicht mehr genügt, wird am Ende an beiden Turnieren teilgenommen haben. Am Mittwoch hat sich Podolski vehement gegen die Vermutung zur Wehr gesetzt, er fahre nur als Maskottchen mit nach Frankreich („Das ist unverschämt“, siehe Text rechts). Wahrscheinlich hat er Recht: Durch den Ausfall des Dortmunders Reus hat sich ihm auf der linken Seite sogar wieder eine Startelfoption eröffnet. Aber erste Wahl ist Podolski definitiv nicht – nachdem er diese Chance schon bei der WM vor zwei Jahren nicht hat nutzen können.

In Brasilien sprang schließlich Mesut Özil ein. Den aber sieht Löw diesmal definitiv in der Zentrale, genauso wie Mario Götze. So wird es auf einen der beiden Wolfsburger Julian Draxler und André Schürrle hinauslaufen, wobei Draxler im Moment leicht favorisiert scheint.

Welche taktischen Varianten besitzt Löw?

Als die Nationalmannschaft 2011 zuletzt auf die Ukraine, den ersten Gruppengegner bei der EM, getroffen ist, hat das Spiel die Nation in helle Aufregung versetzt. Der Bundestrainer hatte seine Mannschaft damals überraschend und vor allem ohne spezielle Vorbereitung im Training mit einer Dreierkette verteidigen lassen. Drei Gegentore kassierten die Deutschen beim 3:3, und obwohl Löw dafür vor allem individuelle Fehler verantwortlich machte, wurde der Versuch mit der Dreierkette schnell für gescheitert erklärt. Inzwischen, da immer mehr Bundesligisten mit drei Mann auf einer Linie verteidigen, ist die Dreierkette längst rehabilitiert.

Auch die Nationalmannschaft hat diese Variante im Portfolio. „Es ist immer gut, wenn wir als Trainer mehrere taktische Möglichkeiten haben“, hat Löw schon bei der Vorstellung seines Kaders gesagt und das Thema zu einem wichtigen Trainingsinhalt während der Vorbereitung ernannt. Am Wochenende im Test gegen die Slowakei hat die Nationalmannschaft vor der Pause mit einer Dreier- und danach mit einer Viererkette verteidigt.

Auch in den anderen Mannschaftsteilen verfügt Löw über ausreichende Varianten. Im Sturm kann er zwischen falscher und echter Neun wählen; im Mittelfeld stehen ihm diverse Grundordnungen zur Verfügung, je nachdem, wie viele Spieler er in der Abwehr aufbietet. Gegen die Slowaken probierte der Bundestrainer es anfangs mit zwei Zehnern. Er kann einen, zwei oder sogar drei Sechser vor die Abwehr stellen – und besitzt auch personell viele Optionen. Ende März im Test gegen Italien bildeten Toni Kroos und Mesut Özil die Doppelsechs. Was in der Theorie gewöhnungsbedürftig erschien, sah in der Praxis gar nicht übel aus. Mit Kroos und Özil hatten die Deutschen gerade in der Zentrale eine hohe Ballsicherheit.

Bei der EM wird die taktische Ausrichtung in starkem Maße vom Gegner abhängen. Löw hat bereits angekündigt, dass er in Frankreich im Grunde zwei Mannschaften brauche: eine für die Vorrunde gegen ultradefensive Teams wie die Ukraine und Nordirland. Und eine für die K.-o.-Spiele, wenn die Deutschen auf Belgier, Franzosen oder Engländer treffen, die selbst die Initiative ergreifen werden.

Wer ist Nummer zwei hinter Manuel Neuer?

Offiziell gibt es keine. Marc-André ter Stegen und Bernd Leno dürfen bei den EM- Spielen gleichberechtigt auf der Bank Platz nehmen. Es sei dem Respekt geschuldet, keine Rangfolge festzulegen, hat Torwarttrainer Andreas Köpke verkündet. Inoffiziell dürfte es seit Sonntag eine klare Hierarchie unter den deutschen Torhütern geben. Sollte Manuel Neuer wegen einer Verletzung oder einer Sperre ausfallen, wird der Leverkusener Leno ihn ersetzen.

Bisher wurde ter Stegen im DFB immer als etwas stärker eingeschätzt, gegen die Slowakei aber hat er sich zum wiederholten Mal bei der Nationalmannschaft recht tölpelhaft angestellt und erneut ein Gegentor verschuldet. Auch wenn Löw den Torhüter des FC Barcelona verteidigt hat – das psychologische Moment ist nicht zu unterschätzen: Bei ter Stegen würden alle nur auf den nächsten großen Fehler warten. Zur allgemeinen Sicherheit trägt das definitiv nicht bei.

Wo sind die Schwachstellen?

In der Verteidigung, und zwar außen genauso wie innen. In Löws Kader findet sich mit dem Kölner Jonas Hector nur ein gelernter Außenverteidiger – für beide Seiten. An Kandidaten mangelt es mit Antonio Rüdiger, Shkodran Mustafi und Benedikt Höwedes (alle Innenverteidiger) oder Emre Can und Joshua Kimmich (beide defensive Mittelfeldspieler) zwar nicht; allerdings kommen sie in ihren Klubs, wenn überhaupt, nur sporadisch auf der Außenbahn zum Einsatz.

In der Innenverteidigung hängt vieles an Mats Hummels und seiner Genesung. Bundestrainer Löw hofft, dass der Dortmunder kommende Woche wieder ins Mannschaftstraining integriert werden kann. Ein Einsatz schon im ersten Turnierspiel am 12. Juni ist allerdings utopisch. Seine potenziellen Vertreter (Rüdiger, Mustafi, Höwedes, Kimmich) verfügen alle nicht über Hummels’ Klasse, über seine Präsenz, seine Stärke in der Spieleröffnung. Dass etwa der junge Kimmich nicht so gut ist, wie er gemacht wurde, hat er gegen die Slowakei gezeigt, als ihm sein Gegenspieler vor dem 1:2 entwischte. Umso mehr wird es darauf ankommen, dass Jerome Boateng nach seiner Verletzung zu seiner alten Form zurückfindet.

Was ist mit Bastian Schweinsteiger?

Er ist der Kapitän, Respektperson und Führungsfigur – trotzdem ist für ihn bei der EM keine Hauptrolle vorgesehen. Am Dienstag ist Schweinsteiger nach mehr als zwei Monaten Verletzungspause ins Mannschaftstraining eingestiegen. Spielfähig ist der bald 32-Jährige längst nicht. Markus Sorg, der zweite Assistent von Bundestrainer Löw, hat sogar den verräterischen Satz gesprochen, dass Schweinsteiger „im Laufe des Turniers eine sehr gute Ergänzung sein kann“. Wer sieht, wie der Mittelfeldspieler seinen vom Krafttraining geformten Körper über den Platz schleppt, wird selbst daran noch zweifeln.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false