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Sport: „Dieser Kampf ist meine letzte Chance“

Boxprofi Oktay Urkal über seinen ungewöhnlichen Spitznamen, eine türkische Jugend in Berlin und die Döner von New York

Herr Urkal, Sie wurden in Wilmersdorf geboren und wuchsen in Schöneberg auf. Jetzt wohnen Sie in Lichtenrade und besitzen ein Geschäft in Wedding. Warum, um Himmels Willen, nennen Sie sich „Cassius von Kreuzberg“?

Kreuzberg und die Berliner Türken, das gehört doch irgendwie zusammen. Außerdem habe ich da mal für ein paar Jahre gelebt. Die richtige Geschichte aber geht so: Ein Reporter hat mich mal gefragt, wie bekannt ich in Berlin bin. Na, ich bin Boxer und in Kreuzberg so bekannt wie Cassius Clay, also Muhammad Ali, in Amerika. Seitdem habe ich diesen Spitznamen.

Und, tragen Sie ihn zu Recht?

Ich glaube, dass ich in Berlin der bekannteste Türke bin. Das Lustige daran ist, dass ich gar nicht so gut Türkisch spreche. Wenn ich dem türkischen Fernsehen hier in Berlin ein Interview gebe, lachen mich meine Freunde immer aus.

Sie sind 1996 als Silbermedaillengewinner der Olympischen Spiele zu den Profis gewechselt. Jetzt sind Sie 34 Jahre alt und boxen am Samstag in Berlin gegen den Amerikaner Vivian Harris um die Profi-Weltmeisterschaft. Läuft Ihnen die Zeit davon?

Für mich ist dieser Kampf die letzte Chance. Wenn ich verlieren sollte, müsste ich mich wieder ewig anstellen. Dafür bin ich mir zu schade. Ich kenne das noch von meinem bisher einzigen WM-Kampf gegen den Australier Kostya Tszyu…

…den WBA- und WBC-Weltmeister, der als einer der besten Boxer weltweit gilt.

Ich habe in Amerika gegen ihn geboxt und hatte ihn am Rande einer Niederlage. Und das, obwohl er mir in der achten Runde den Kiefer gebrochen hatte. Ich habe weitergeboxt und meinem Trainer nichts gesagt, weil ich Angst hatte, er würde den Kampf abbrechen. Ich wollte unbedingt Weltmeister werden und habe dann knapp nach Punkten verloren. Das alles ist jetzt fast drei Jahre her. Fast dieselbe Zeit hatte ich auf diesen Kampf warten müssen. Ich bin zu alt, um noch einmal so lange zu warten.

Im Profiboxen lässt sich auch ohne WM-Titel viel Geld verdienen.

Glauben Sie? Also, ich bin noch nicht Millionär geworden. Deswegen will ich mich nicht allein auf das Boxen verlassen. Zusammen mit meinem Berater habe ich ein Hochzeitsgeschäft eröffnet, das heißt, wir bieten rund um eine Hochzeit alles an – vom Saal bis zum Orchester. Und wenn ich doch Weltmeister werden sollte, eröffnen sich für eine gewisse Zeit andere Perspektiven.

In den USA sind Sie seit der knappen Niederlage gegen Tszyu unglaublich populär. Sogar der legendäre Promoter Don King hat Ihnen ein Angebot gemacht.

Wenn du als Europäer in den Staaten einen Bombenkampf machst gegen einen Superstar, dann werden sie auf dich aufmerksam. Ich wäre gerne nach Amerika gegangen. In New York leben sehr viele Türken, es gibt sogar ein paar Döner-Läden, und ich sage Ihnen, die Döner sind okay. Aber das Angebot von Don King war völlig daneben.

Haben Sie ihm das ins Gesicht gesagt?

Nein, wir haben nicht Auge in Auge miteinander verhandelt. Don King hatte mir einen Vertragsentwurf zugeschickt und mich dann nach Amerika eingeladen. Doch das Angebot war den Aufwand nicht wert.

Anschließend sind Sie in den Stall von Wilfried Sauerland gewechselt, zu Ihrem früheren Trainer Ulli Wegner. Warum erst so spät?

Machen wir uns nichts vor. Als ich 1996 Profi wurde, wollte Sauerland nur Deutsche haben. Es waren ja noch die Ausläufer des Booms mit Henry Maske und Axel Schulz zu spüren. Das ist überall auf der Welt so. Man möchte erst mal seine eigenen Leute nach oben bringen.

Aber Sie haben für Deutschland bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen Medaillen gewonnen.

Ja, aber ich habe keine blonden Haare und keine blauen Augen. Ich hätte mir die Haare färben und getönte Kontaktlinsen tragen können. Aber wäre ich dann ein Realdeutscher gewesen? Egal, ich bin seit 1991 deutscher Staatsbürger, aber den türkischen Pass habe ich nicht abgegeben.

Sie wurden 1970 als Kind türkischer Gastarbeiter in Berlin geboren. Warum wollten Sie 21 Jahre später unbedingt Deutscher werden?

Auch das hat mit dem Boxen zu tun. Ich wollte damals für die Türkei starten, aber für die Türken in der Türkei war ich nichts anderes als ein Gastarbeiter. Meinen Berliner Freund Ibrahim Vural und mich haben sie damals bei den Kämpfen in der Türkei oft betrogen. Aber 1991waren wir einfach zu gut und wurden Türkischer Meister. Für die Nationalmannschaft aber wurden wir nicht nominiert. Heute rennen die Türken weltweit guten Sportlern hinterher, die einen türkischen Pass haben. Na ja, dann kam Ulli Wegner auf mich zu, und der machte mich zu dem, was ich heute bin. Zwischen 1993 und 1996 war ich der erfolgreichste deutsche Boxer.

Und das alles, weil Sie als Jugendlicher in dieselbe Disko gegangen sind wie der frühere Weltmeister Graciano Rocchigiani.

Stimmt, durch Graciano bin ich zum Boxen gekommen. Wir kannten uns aus der „Weißen Rose“, das war ein Jugendklub in Schöneberg. Graciano war damals schon eine große Nummer. Meine Mutter fand das mit dem Boxen gar nicht so toll.

Sie hatte Angst um Sie.

Sie hatte gesehen, dass mich sogar mein jüngerer Bruder verprügelte. Meine Eltern sind Mitte der Sechzigerjahre nach Berlin gekommen. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn meine Eltern damals nicht ausgewandert wären. Meine Familie stammt aus einem Dorf in Anatolien, 350 Kilometer südöstlich von Ankara. Da läuft nicht mal ein Hund über die Straße. Wir Kinder waren immer schlecht gelaunt, wenn es in den Ferien hieß: Wir fahren in die alte Heimat. Sechs Wochen nix los. Wir waren froh, wenn wir mal einen Esel gesehen haben.

Haben Sie alle Brücken hinter sich abgebrochen?

Nein, ich fahre jedes Jahr in das Dorf meiner Eltern, vor ein paar Jahren habe ich mir dort sogar eine kleine Villa am Wasser gekauft. Aber meine Heimat ist hier. Ich liebe Berlin, das ist mein Berlin, ich kenne ja eigentlich nichts anderes. Ich bin zwar als Sportler viel rumgekommen, aber hier ist es am besten. Immer, wenn ich in der Türkei bin, geht es mir so, als sei ich halbseitig gelähmt. Eine Seite von mir ist in Gedanken immer in Berlin.

Dabei hat sich nach dem Mauerfall viel geändert.

Ja, aber das hat nicht nur mit der Wiedervereinigung zu tun. Wenn ich heute in meine alte Gegend nach Schöneberg komme, dann schäme ich mich. Vielen türkischen Kindern fehlt heute der Respekt. Wir haben damals auch Blödsinn gemacht. Wir haben die Bucker, das sind große Murmeln, der anderen Kinder gestohlen, aber wir waren den älteren Menschen gegenüber nicht so respektlos.

Damals gab es auch keinen Streit über Kopftücher.

Das Wertvollste an Deutschland ist, dass jeder hier leben kann, wie er möchte. Ob einer eine schöne oder nicht so schöne Wohnung hat, ist egal. Wichtig ist nur, ob du in die Wohnung gehen möchtest oder nicht. Will ein Mädchen oder eine junge Frau ein Kopftuch tragen und ihr Haar nicht zeigen, bitteschön. Möchte sie keins tragen, auch gut.

Viele Frauen können sich nicht aussuchen, ob sie ein Kopftuch tragen wollen oder nicht. Sie werden gezwungen.

Das ist natürlich völlig inakzeptabel. Aber so bin ich nicht aufgewachsen. In unserer Familie hat meine Mutter ein Kopftuch getragen, meine Schwestern nicht. Meine Frau trägt auch keins. Sicher, ich könnte sie mit Gewalt dazu bringen, aber ich würde das niemals über mein Herz bringen.

Sie sind sehr liberal erzogen worden.

Ach, wir hatten auch unsere Einschränkungen. Als Jugendliche wollten wir immer nur in die Disko gehen. Wenn mein älterer Bruder nicht zu Hause war, er boxte damals noch, konnte ich auch mal etwas später nach Hause kommen. Wenn es aber meine Mutter gepetzt hat, bekam ich eine Tracht Prügel von ihm. Trotzdem habe ich das Leben in Berlin genossen, obwohl es für meine Eltern nicht leicht war, uns sechs Kinder zu ernähren. Meine ersten guten Adidas-Turnschuhe hatte ich mit 18 oder 19.

Was haben Sie mit Ihrer ersten Profi-Gage gemacht?

Ein bisschen habe ich gespart, den anderen Teil habe ich meiner Mutter gegeben. Als kleiner Junge habe ich immer geweint, wenn sie in der Nacht um drei aufstand und zur Arbeit ging. Sie war Putzfrau und musste allein auf die Straße. Wir Kinder schliefen damals auf dem Flur, da bekam man alles mit. Wenn sie aus der Wohnungstür war, bin ich auf den Balkon und habe ihr, soweit es ging, nachgesehen, damit ihr nichts passiert. Mein größter Wunsch war damals, dass ich mal so viel Geld haben würde, dass ich sie mit dem eigenen Auto zur Arbeit fahren kann. So haben sich die Zeiten verändert.

Das Gespräch führten Sven Goldmann und Michael Rosentritt.

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