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Joachim Löw kann das Gerede von fehlender Mentalität im deutschen Team nicht mehr hören.

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Diskussion um Führungsspieler: Joachim Löw: "Ich würde ganz ruhig sein"

Der Bundestrainer ist genervt von der auch durch Michael Ballack losgetretenen Führungsspielerdebatte. Ganz begraben kann er sie aber auch nicht.

Der Tag in Évian-les-Bains hat recht verheißungsvoll begonnen. Die deutschen Fußball-Nationalspieler sind vom Dienst am Ball freigestellt worden, zudem zeigen sich am Morgen – selten genug – ein paar größere blaue Flecken am Himmel über dem Genfer See. Aber weil schon am späten Vormittag wieder Wolken aufziehen, verbringen die Spieler ihre freie Zeit fast vollzählig in ihrem Hotel am Hang. Allzu attraktive Betätigungsmöglichkeiten bietet der Kurort in diesen Tagen schließlich nicht, gerade jungen Männern nicht. Selbst Joachim Löw, der Bundestrainer, hat sich mit Arbeit abgelenkt, Videos gesichtet, das Spiel gegen Polen einer Tiefenanalyse unterzogen. Und schon um zehn Uhr ist er im Medienzentrum neben dem Trainingsplatz zur Pressekonferenz erschienen. „Das ist keine Arbeit“, behauptet er tapfer. „Das mache ich gerne heute Morgen.“

Den Wahrheitsgehalt dieser Aussage darf man ruhig ein bisschen bezweifeln. Je länger Löw im Amt ist, desto mehr hat er sich den Medien entzogen. Er erledigt die Pflichttermine von Fifa und Uefa – also die Pressekonferenzen vor und nach den Turnierspielen – vorschriftsmäßig, mehr aber auch nicht. Insofern ist es schon eine kleine Überraschung, dass sich Löw am Samstagmorgen außerplanmäßig den Fragen der Journalisten stellt, dass er auch viel mehr Zeit investiert als sonst üblich. Es lässt aber auch darauf schließen, wie in der politischen Führung der Nationalmannschaft die Situation nach dem 0:0 gegen Polen im zweiten EM-Gruppenspiel eingeschätzt wird.

Mit vier Punkten aus zwei Spielen und dem noch ausstehenden Duell gegen den EM-Debütanten Nordirland am Dienstag ist die Lage sportlich weiterhin beherrschbar, die Qualifikation fürs Achtelfinale nicht ernsthaft gefährdet. „Ich sehe keine besondere Situation im Vergleich zu anderen Turnieren“, sagt Löw. „Ich bin absolut entspannt.“ Aber emotional könnte die Angelegenheit schnell aus dem Ruder laufen. Dass der Chef kommt und sich wortreich erklärt, ist also auch der Versuch, die aufkommenden Diskussionen rund um den Weltmeister möglichst früh wieder einzufangen, bevor sie wild zu wuchern beginnen.

Die Reaktionen auf das 0:0 gegen Polen waren zum Teil recht heftig. „Eine hässliche deutsche Mannschaft“ hatte die italienische „Gazzetta dello Sport“ gesehen. Das französische Fachblatt „L’Équipe“ schrieb: „Die Deutschen haben ein leeres Blatt Papier abgegeben.“ Prüfung also nicht bestanden. Natürlich sind solche kritischen Kommentare auch Ausdruck der hohen Erwartungen, die an die Auftritte des Weltmeisters geknüpft sind. Diesen Erwartungen sind die Deutschen gegen Polen, vor allem in der Offensive, nicht gerecht geworden. Löw hat dem nicht widersprochen, er hat auch kein Problem mit solchen Deutungen. Ein Problem hat er, wenn es gleich wieder grundsätzlich werden muss, so wie es der frühere Nationalspieler und Vizeweltmeister Michael Ballack getan hat. „Dieser Mannschaft fehlen ein bisschen Persönlichkeit und Charakter“, hat er als Experte des Fernsehsenders ESPN gesagt.

Löw sagt, er habe sehr wohl Führungsspieler in seinem Kader – mündige wie kritische

Löw gibt sich betont amüsiert, als er auf Ballacks Aussage angesprochen wird. „Die Führungsspielerdiskussion zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Die Dinge wiederholen sich so sehr, die gehen an mir wirklich vorbei“, sagt er. Der Bundestrainer erinnert an die WM vor zwei Jahren. Auch damals habe es geheißen, es gebe keine Führungsspieler im Team; nach dem Titelgewinn aber waren Leute wie Bastian Schweinsteiger, Manuel Neuer, Jerome Boateng, Mats Hummels plötzlich „die großartigen Leader in der Mannschaft“, sagt Löw. „Jetzt spielen wir einmal 0:0, und die Diskussion kommt wieder. Also ganz ehrlich: Damit ist alles gesagt.“ Ist es natürlich nicht.

„Wäre ich ein Außenstehender: Ich würde ganz ruhig sein, was das betrifft“, sagt der Bundestrainer. „Wenn da irgendjemand etwas sagt, dann…“ Löw lässt den Satz im Nichts enden. Er zuckt zweimal mit der Schulter und macht mit der Hand eine abwertende Bewegung. Im Grunde war es genau diese Debatte, die Löw und Ballack einst entzweit hat: hier der Fußball alter Prägung, das Prinzip der starken Männer, die alleine bestimmen, wo der Ball hinläuft; da die Idee, dass sich alle dem großen Ganzen verantwortlich fühlen müssen, damit man Erfolg hat. Löw bescheinigt Spielern wie Boateng, Hummels, Neuer, Khedira oder Schweinsteiger herausragende Führungsqualitäten – auf ihre Art und Weise: „Sie kommunizieren großartig mit der Mannschaft, denken mit, fragen mich manchmal ein Loch in den Bauch.“ Ihre Mitarbeit im Spielerrat sei wirklich sagenhaft gut. „Die Spieler sind mündig, sind kritisch, gehen auch mit Kritik sehr gut um.“

Joachim Löw hat keine Lust auf eine Führungsspielerdebatte.
Joachim Löw hat keine Lust auf eine Führungsspielerdebatte.

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Es ist kein ganz neues Phänomen, dass es in der öffentlichen Bewertung der Nationalmannschaft extreme Ausschläge gibt, sowohl in die eine wie in die andere Richtung. Nach dem 0:0 gegen Polen ist jetzt mal wieder alles schlecht. Löw setzt solchen emotional geprägten Urteilen eine streng fachliche Sichtweise entgegen. Ja, das Offensivspiel gegen Polen war nicht gut, die Mannschaft habe Laufwege vermissen lassen, Intensität und Geschwindigkeit. Aber: „Ich sehe das jetzt nicht als grundsätzliches Problem an.“

Fitness, Stimmung, Konzentration, Einstellung – all das stimme. Auch deshalb wird der Bundestrainer sich gegen Nordirland der vorherrschenden Wechselstimmung (Özil, Müller, Götze – alle raus!) weitgehend widersetzen. Löw kündigt zwar an, „dass es die eine oder andere Veränderung geben“ könne. Nach einer Totalrenovierung des Teams hört sich das allerdings nicht an. Warum auch? Götze? „Ich war mit ihm zufrieden“, sagt der Bundestrainer. Müller? „Er kann ein Spiel wegstecken, wo es nicht so läuft.“ Und Özil? „Der wird schon kommen.“ Er wisse, was diese Spieler können, sagt Joachim Löw, „und ich glaube an ihre Fähigkeiten“.

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